■ Andreu Nin ist in Spanien noch immer vergessen: Ein Opfer der „Normalisierung“
Die Diskussion über die Bedeutung des Stalinismus für die Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung ist eine seit dem Verschwinden der UdSSR noch immer unbewältigte Aufgabe. Sie ist jedoch absolut notwendig, um die schwerwiegende Degenerierung zu verstehen, die dieses System für die Ideale der Linken bedeutet hat, und eine Wiederholung in der Zukunft zu vermeiden.
Im Falle Spaniens ist das besonders augenfällig, wenn man die bedeutende Rolle in Betracht zieht, die die UdSSR unter Stalin während der Revolution und des Bürgerkriegs in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre gespielt hat.
Zu jener Zeit gab es in Spanien eine sehr plurale und vielfältige Linke mit einer starken anarchistischen Strömung und einer einzigartigen marxistischen Partei (leninistisch-trotzkistischer Ausrichtung), der „Arbeiterpartei der marxistischen Union“, POUM.
Die Entwicklung und der Ausgang der Kämpfe innerhalb der republikanischen Zone führten jedoch zu einer fast totalen Vorherrschaft der Kommunistischen Partei Spaniens und ihrer Verbündeten, die durch die Repression gegen diese heterodoxen Kräfte durchgesetzt wurde.
Eines der Opfer dieses „Normalisierungsprozesses“ war Andreu Nin, Führungsmitglied der POUM, der sich vom nationalistischen Republikaner zum antistalinistischen Kommunisten gewandelt hatte. Andreu Nin war Protagonist eines im Europa der dreißiger Jahre einmaligen Experiments: der Entwicklung einer politischen Strömung mit starker sozialer Verankerung vor allem in Katalonien, das ein Sozialismusmodell vertrat, das sich von dem der UdSSR unterschied.
Während die Kriegssituation in der Sowjetunion dazu herhielt, die gesellschaftliche Entwicklung festzufrieren, und bald darauf zur Rechtfertigung der einsetzenden stalinistischen „Säuberungen“ diente, war bei der POUM die Idee vom antifrankistischen Krieg und der sozialen Revolution untrennbar miteinander verbunden. Diese Strömung war darüber hinaus die einzige, die 1936 die Farce der Schauprozesse, die damals in Moskau gegen die „alte bolschewistische Garde“ geführt wurden, unzweideutig und öffentlich anprangerte. All das vertrug sich sehr wenig mit der Staatspolitik, die Stalin bereits damals praktizierte.
Im Juni 1937, zu den Hochzeiten des Machtkampfes im republikanischen Lager, wurde Andreu Nin von stalinistischen Polizisten festgenommen und verschwand spurlos. Die herrschende stalinistische Atmosphäre und der Spanische Bürgerkrieg wurden in der Folgezeit zu einem unüberwindlichen Hindernis für etwas, das heute zumindest in der Linken eine anerkannte Grundbedingung darstellt: die Notwendigkeit des Pluralismus und der Meinungsvielfalt, entgegen der alten Freund-Feind- Dialektik, die in den Zeiten des Faschismus und des Stalinismus galten.
Mit der Glasnost-Politik in der Sowjetunion begannen Untersuchungen über diesen Fall. Und erst kürzlich konnte durch Nachforschung in mittlerweile zugänglichen Moskauer Archiven bewiesen werden, daß Andreu Nin auf Befehl von Stalin ermordet wurde. Dennoch gehört Nin noch immer zu den Vergessenen des kollektiven Gedächtnisses.
Es ist in Spanien schwierig, eine öffentliche Debatte über diese Tatsachen einzuleiten. Nicht zufällig hatte der erste wichtige gesellschaftliche Konsens während der Transition zur Demokratie die Vergangenheit betroffen: Der Bürgerkrieg und mit ihm die Verantwortlichkeiten der Frankisten sollten vergessen werden; gleichzeitig aber würde auch an diejenigen nicht gerührt, die versucht hatten, mit Waffengewalt innerhalb der antifrankistischen Front Ordnung zu schaffen. So wurden beide Seiten davor bewahrt, sich mit den Leichen im eigenen Keller auseinanderzusetzen.
Die Auswirkungen dieses Pakts machten sich bald bemerkbar, vor allem bei der zunehmenden Schwierigkeit, in der Gesellschaft eine demokratische und pluralistische politische Kultur zu verankern, die in der Lage wäre, autoritäre Versuchungen sowohl von rechts wie von links zu vermeiden.
Auch nach dem Fall des real existierenden Sozialismus hat sich in dieser Hinsicht wenig verändert. Gleichwohl ist es Zeit, die politischen Gründe und die schwerwiegende Verantwortung derer aufzuklären, die die Vernichtung von Nin im Hinterhof des Bürgerkriegs beschlossen haben. Dabei geht es nicht um Revanchebedürfnisse gegenüber dem definitiv besiegten Stalinismus, sondern um eine ethische Schlacht um das Recht auf Erinnerung.
Sich an Andreu Nin zu erinnern, dient jedoch auch dazu, der leichtfertigen Vermengung von Opfern und Tätern des Stalinismus entgegenzuwirken, mittels derer die Ideologen des „Endes der Geschichte“ versucht haben, alle Varianten der Linken zu beerdigen. Jaime Pastor
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