: All the News that's fit to print
■ Ein Besuch bei der „New York Times“, dem traditionsreichsten „national paper“ der Vereinigten Staaten
Diese im Jahre 1851 gegründete Zeitung ist mehr als eine Zeitung, sie ist ein Mythos. 1896 kaufte sie der Verleger Adolph S. Ochs, dessen Nachkommen bis heute die Geschicke des Blattes bestimmen. Gute hundert Jahre später, am 14. September 1987, umfaßte die Sonntagsausgabe der New York Times 1.612 Seiten und wog mehr als zwölf Pfund. Wochentags bietet die Times derzeit im Schnitt 237.000 Worte redaktionellen Text, am Sonntag sind es 744.000 – das entspricht der Textmenge des Wälzers „Vom Winde verweht“. Sie verfügt über 27 Büros im Ausland von Abidjan bis Warschau, und wird in elf verschiedenen Druckereien hergestellt.
Angesichts dieser Phalanx von Superlativen ist der arglose Besucher um so erstaunter, wenn er ein paar Schritte vom Times Square entfernt in der Nummer 229 West der 43. Straße die Arbeitsbedingungen inspizieren kann, unter denen diese Protagonistin der Weltpresse Tag für Tag gefertigt wird. Der dritte Stock beherbergt einen der Nachrichtenräume, welche die Länge eines ganzen New Yorker Blocks haben. Wenn eine Redakteurin der Metro Section, respektive des Lokalteils, aus dem Fenster blickt, schaut sie auf die 43. Straße, wenn Max Frenkel, der in Deutschland geborene und den Nazis entkommene Chefredakteur, selbiges tut, sieht er auf die 44. Straße. Im dritten Stock sind darüber hinaus die über 60 Mitarbeitenden des Wirtschaftsressorts und das Auslandsressorts untergebracht.
Mit Barrikaden aus Büchern versuchen sich die Insassen der gigantischen Nachrichtenfabrik ein wenig voneinander abzuschotten, doch über viel mehr als einen der rund 850 Terminals des Redaktionssystems und ein Telefon verfügen nicht einmal Ressortleiter. Zwangsläufig wird im Nachrichtenraum kaum geplaudert oder gar gebrüllt, wie es die einschlägigen Hollywood-Filme gewöhnlich glauben machen wollen, sondern es herrscht eine rücksichtsvolle Konzentration.
Der Rekord für die Besatzung dieser Nachrichtenräume, die sich mittlerweile über zweieinhalb Stockwerke erstrecken, waren sechshundert Menschen auf einer Etage, inzwischen wurde die Bevölkerungsdichte ein wenig reduziert. Alle haben rund einen Meter achtzig mal zwei Meter vierzig zur Verfügung, nur verdiente senior editors bekommen ein eigenes Büro für sich. Dieses ist dann zwei Meter vierzig mal zwei Meter vierzig groß, und wenn es sich um hochverdiente senior senior editors handelt, hat es sogar ein kleines Fenster.
Um die Nachrichtenaufarbeitung zu koordinieren, schicken alle Ressorts am Morgen Laufzettel herum, in welchen sie die Artikel auflisten, die sie ins Blatt heben wollen.
Um Viertel nach drei ist eine erste Konferenz angesetzt, um viertel nach fünf trifft sich die Redaktionsspitze noch einmal kurz, um festzulegen, welche Themen und Texte auf der ersten Seite plaziert werden sollen. Anschließend regiert ein Chef vom Dienst mit fünf Stellvertretern – und eine unscheinbare Anzeigentafel vor der Chefredaktion, auf der Seitenzahlen aufleuchten und erlöschen. Sie zeigt an, welche Seiten noch fehlen. Um 20 Uhr müssen die letzten Texte in die Korrektur gehen, um 21 Uhr das Layout für die erste Ausgabe fertig sein. Für die in New York verbreitete late edition kann bis kurz vor Mitternacht aktualisiert werden.
Von der Produktionstechnik her betrachtet ist die Times jedoch – beispielsweise hinter der kleinen taz – deutlich zurück. Die Seiten werden nicht mittels Computerlayout am Bildschirm zusammengebaut, sondern die Papierabzüge der Lichtsatzmaschinen werden ausgeschnitten und auf Leuchttischen geklebt. Ein Rechner und ein Programm für den Ganzseitenumbruch sind in Arbeit, doch für eine Zeitung mit mindestens achtzig Seiten auf denen 98 verschiedene Schrifttypen eine ebenso konservative wie babylonische Ästhetik entfalten, ist dies ein gigantisches Projekt. Bislang hat jedes Ressort einen eigenen Art Director, der die Aufschlagseiten entwirft, eine ganze Abteilung sitzt an Apple Macintoshs und fertigt Landkarten und Schaubilder.
Für den demokratischen Gestus des Hauses spricht auch die Tatsache, daß das Büro des Herausgebers und die Kantine auf dem gleichen Stockwerk untergebracht sind. Um zum Büro von Arthur Sulzberger jr. zu gelangen, hat der Besucher jedoch im elften Stock noch eine „Hall of Fame“ zu durchqueren, einen Flur auf dem goldgerahmt sämtliche Artikel zu finden sind, für die Redakteurinnen oder Redakteure des Blattes die begehrteste Journalisten-Auszeichnung der USA erhalten haben, den Pulitzer-Preis.
Während seine Redakteure sehr formell gekleidet sind, trägt der Herausgeber ein rot-weiß gestreiftes Hemd, Hosenträger und keine Krawatte. Arthur O. Sulzberger jr., der vor siebzehn Monaten die Nachfolge seines Vaters antrat, wirkt mit seinem jungenhaften Charme nicht so, als sei er 41 Jahre alt.
In dem kleinen, wenig repräsentativen Büro, das jeder Berliner Baustadtrat als seiner unwürdig ablehnen würde, steht in einer Glasvitrine das Modell einer hochmodernen Druckstraße. „Wir haben 450 Millionen Dollar in diese neue Druckerei in New Jersey investiert“, sagt er, „und werden für weitere 300 Millionen eine weitere Druckerei aufbauen.“ In nicht allzu ferner Zukunft sollen farbige Fotos die Times zieren; zunächst in der Wochenendbeilage, und in spätestens fünf Jahren auch auf Seite 1. Eine Vorstellung, welche jahrzehntelange Freunde des Blattes erschaudern läßt.
„Wir machen fast 80 Prozent unserer Einnahmen mit Anzeigen und etwas mehr als 20 Prozent mit dem Verkauf des Blattes“, sagt Sulzberger zur wirtschaftlichen Struktur der Times. Bei einem Preis von 50 Cent werden unter der Woche täglich rund 1,2 Millionen Exemplare verkauft und von der Sonntagsausgabe, die bis zu tausend Seiten umfassen und vier Pfund wiegen kann, rund 1,8 Millionen. „Zwei Drittel der Auflage“, erläutert Sulzberger diese für deutsche Verhältnisse gigantischen Zahlen, „werden im Großraum New York verkauft, ein Drittel im Rest des Landes, wobei wir an der Ostküste wesentlich mehr gelesen werden.“
Damit ist die Times neben dem Wall Street Journal und USA Today eine der drei Tageszeitungen, die das Attribut überregional mit Recht tragen. Was die Konkurrenz anbelangt, so sieht sie Sulzberger in der Washington Post in der Innenpolitik, in der Los Angeles Times bei der Auslandsberichterstattung, in der New York Post und im New York Newsday im Lokalen. „Die Rezession hat uns in den letzten fünf Jahren hart getroffen“, klagt er. „1987 war ein hervorragendes Jahr, danach ging es bergab. Wir rechnen damit, daß 1993 die Wende kommt.“
Mr. Sulzberger hält nichts von gedrucktem Fernsehen
Der Zukunft seines Blattes sieht Sulzberger mit bescheidener Arroganz entgegen. „Zunächst hieß es, das Radio würde die Zeitungen umbringen, dann sollte uns das Fernsehen den Garaus machen, aber es gibt uns immer noch. Großer Journalismus wird immer seine Leserschaft finden.“ Was heißt großer Journalismus, was bedeutet das einmalig uneindeutige Motto, das seit fast hundert Jahren den Kopf des Blattes ziert „All the news that's fit to print.“?
„A sophisticated look at the world“, antwortet der Herausgeber. „Wir fangen mit den Auslandsnachrichten an, mit dem Anspruch vorurteilsloser, unparteilicher Berichterstattung.“ Sulzberger hält nichts von gedrucktem TV, wie es die in Deutschland als großer Erfolg gehandelte USA Today entwickelt hat – und die Welt es jetzt zu imitieren versucht. USA Today habe bisher nur Verluste gemacht, sagt er. Ganz offensichtlich findet Sulzberger sie schlicht unter Niveau. „Wir sind kein Massenmedium wie das Fernsehen, das Präsidentschaftswahlen entscheidet“, beschreibt er den Einfluß seines Blattes, „aber wir setzen die Themen.“ Mit der Berichterstattung über Somalia beispielsweise habe die Times dazu beigetragen, daß die UNO und die USA dort intervernierten.
Das Prädikat konservativ will er für das Blatt keinesfalls gelten lassen. „Vielleicht nach deutschen Maßstäben, aber nicht nach hiesigen. Wir bekommen jedenfalls deutlich mehr Leserbriefe, in denen Klage geführt wird, daß unsere Zeitung zu liberal sei, als daß sie als zu konservativ kritisiert würde.“ Michael Sontheimer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen