piwik no script img

Nein, so hatte sich der Dresdner taz-Korrespondent die hessische Landeshauptstadt nicht vorgestellt: Statt Glimmer und Glamour fand er behäbigen Wohlstand, geputzte Fassaden und eine Karl-Marx-Straße. Wiesbadens Problem ist nicht der Mangel, sondern der Überfluß. Derzeit größter Streitpunkt ist der Bau eines 60 Millionen Mark teuren Musikpalastes. Doch auch in Görlitz' reicher Partnerstadt gibt es Ecken, die nicht in den Prospekten beschrieben sind.  ■ Aus Wiesbaden Detlef Krell

Ich mag diese Viertel, wo die Straßen eng sind und krumm und sich steil den Berg hinaufmühen, wo die Autos noch wie Fremdkörper herumkrauchen, aber die Leute ungestört flanieren. Kneipen an den Ecken, in denen der Wirt noch einen Namen hat; Bäume und Gesträuch in den Höfen; Kramläden und bunte Wände.

In Wiesbaden hätte ich nicht damit gerechnet.

Wiesbaden. Bundeskriminalamt, Statistisches Bundesamt, reiche Stadt und betuchte Bürger. Früher mal Weltkurstadt und Goethe zu Besuch. Derlei Auskünfte waren billig zu bekommen. Sehr einladend klangen sie nicht.

Ich streife durch das Bergkirchenviertel. Türkische Frauen gehen einkaufen. Kinder wuseln heimwärts; ihre lauten Gespräche prallen wie Bälle von den Gründerzeitfassaden.

An der Theke im „Oberhaus“ diskutieren bosnische Männer. Gereizt ist die Stimmung hier, an den Wänden Plakate des Staates Bosnien-Herzegowina, Bilder hungernder, ermordeter Menschen. Ein einzelner deutscher Gast steht abseits beim Bier. Von dem albernen Film, der über den Kneipenfernseher flimmert, nimmt niemand Notiz.

Durch die Adlerstraße sehe ich auf die Innenstadt hinunter, die rostbraunen Nadeltürme der neogotischen Marktkirche, am Horizont die Hügelketten über dem Rhein. Kleine Plakate erzählen von einem „Flohmarkt“ und locken ins Bürgerzentrum Bergkirchenviertel. Eben gehen zwei Seniorinnen hinein. In einem kantinenähnlichen Raum bestellen sie sich durch die Küchenluke einen Kaffee.

Der Römerberg, gleich um die Ecke, hatte vor den Kommunalwahlen Schlagzeilen gemacht. Das offenbar einzige leerstehende Haus weit und breit war besetzt worden. Anders als bei ähnlicher Gelegenheit in Dresden, als rechte Skins so lange randalierten, bis die Polizei kam und das von Linken besetzte Haus räumte, erhielten die Ordnungshüter in Wiesbaden von den Besetzern den Tip. Die Polizei wurde „durch ein in der Innenstadt verteiltes Flugblatt auf die Vorfälle aufmerksam und leitete sofort Gegenmaßnahmen ein“, meldet das Wiesbadener Tageblatt. Mich erinnert diese Gegend an die Äußere Neustadt in Dresden, an die Nikolaivorstadt in Görlitz, an die historisch gewachsenen und „planmäßig“ verfallenen Wohnviertel in den Städten daheim. In ein paar Jahren werden sie zwar so schön wie hier saniert sein und die Städte „vergolden“. Doch ähnlich wie in Wiesbaden bangen die Bewohner um bezahlbaren Wohnraum in ihrem Kiez. Etwa 6.000 Haushalte sind im reichen Wiesbaden auf der Suche nach einer Sozialwohnung; ebenso viele hätten zwar keinen Anspruch darauf, könnten aber die üblichen Mieten von 15 bis 22 Mark pro Quadratmeter nicht mehr bezahlen.

Wahlkampf plakatiert die Wände. Den Vogel schießt die CDU ab mit ihrem frappierend dämlichen Slogan: „Autofahrer sind auch Verkehrsteilnehmer“. Mir fällt ein, wie heute morgen der Hotelier seine Frühstücksgäste begrüßte: „Na, Parkplatz gefunden?“

In der Altstadt nehmen unzählige Geschäfte, Cafés und Kneipen den Leuten die Hast und laden zum Verweilen ein. Leider sind viele Läden darauf verfallen, ihr Zeugs in sterilen Glaspalästen anzupreisen, was die farbenfroh rekonstruierten Obergeschosse wie ein Alibi erscheinen läßt. Doch es gibt auch Häuser, die sind stilecht bis zur Türklinke. Manche haben in den Siebzigern sogar einen „Preis im Fassadenwettbewerb“ erhalten.

Bei uns in Dresden gab es zu DDR-Zeiten die „Goldene Hausnummer“, ein Mitbringsel von OB Berghofer aus Berlin. Die erhielten „Hausgemeinschaften“, wenn sie vor ihrem Betonblock geduldig Stiefmütterchen durchbrachten. Unterdessen verfiel die Äußere Neustadt so rasant, daß sie weggesprengt werden sollte.

Inzwischen bin ich auf der „Prachtstraße“ angelangt. Tatsächlich stehen hier Paläste mit üppigen, dezent farbigen Fassaden, schöne alte Platanen, das berühmte Ensemble des Kurhauses. Ich lasse mich von den Kolonnaden ins Kurhaus führen und kann mich dort ungestört umsehen. Damit es nicht zu feierlich wird, schleppen Handwerker, munter plaudernd, ihre Leitern durch die lichtgeflutete Halle. Dem Geheimrat Goethe soll Wiesbaden recht gut bekommen sein.

Der zur Schau gestellte Reichtum des Kurbetriebes prägte den Ruf der Promeniermeile. Ein guter Ruf hält ja bekanntlich immer etwas länger als die Realität. Heute ist die Wilhelmstraße eine der Hauptverkehrsadern der Stadt. Hier haben es alle Leute eilig, kein Gedanke an Kur.

Also wieder zurück in die Ellenbogengasse und die Goldgasse, zum Dreililienplatz und Schloßplatz. Stadt und Land sehen sich hier in die Augen; Rathaus und Hessischer Landtag stehen einander vis-à-vis gegenüber.

Oberbürgermeister Achim Exner, der sich im Stadtmagazin Wiesbadener schon mal mit Clinton vergleichen ließ, lädt zum Gespräch ein. Der SPD-Politiker hat, der örtlichen Presse zufolge, Wiesbaden „mit einem Schlag bundesweit bekannt gemacht“, als er für seine Tochter ein halbes Jahr Vaterschaftsurlaub nahm. Dieses Land und seine Sorgen!

Eine Woche nach unserem Gespräch ist er der Verlierer der Kommunalwahl. Von der absoluten Mehrheit rutschen die Sozialdemokraten auf schlappe 33,7 Prozent der Stimmen. Das reicht nicht mal mehr für Rot-Grün, obwohl die Grünen 3,1 Prozent zulegen konnten. Als drittstärkste politische Kraft ziehen die Reps ins Rathaus ein.

In seinem Dienstzimmer stellt Achim Exner sich zunächst stolz als taz-Genossenschafter vor. Bevor wir übers schnöde Geld reden, referiert er kurz die „völlig veränderte Aufgabenstellung“ für Politik. Der kommunale Haushalt werde in den nächsten Jahren durch höhere Abgaben ans Land, Kosten für Dienstleistungen mit 50 Millionen Mark stärker belastet, bei einem Ausgabevolumen von 1,9 Milliarden Mark.

Im Gegensatz zum Görlitzer Rathaus wäre im Wiesbadener nicht das größte Problem, dem Mangel abzuhelfen, sondern „mit dem Überfluß umzugehen. Überfluß an Abfall, an Verkehr...“ Oder, kurz gesagt: „In Wiesbaden gibt es doch mehr Hunde als in Görlitz Kinder.“ Aus diesem Grund müsse „schlicht eine sozial gerechte Steuererhöhung“ das Geld für die Kommunen im Osten aufbringen und nicht etwa deren „dauerhafte Alimentierung“.

Das bundesweit beargwöhnte Projekt der Musik- und Kunstschule auf dem Dernschen Gelände in Wiesbaden gegen die Existenzsorgen der Partnerstadt Görlitz aufzurechnen, hält Exner jedoch für „Unsinn“. Das Dernsche Gelände schließt ans Rathaus an, ein von prächtigen Häusern umstandener Platz. Dort wird emsig an einer Tiefgarage gebaut, und über dem Karossenbunker solle „etwas für die Seele“ entstehen. „Wenn für einige Leute der Bau von musikalischen Kindergärten und Schulen ein Renommierobjekt ist, dann, von mir aus, ist es eben eines.“ Exner rechnet damit, daß der Bau nicht nur Geld kosten, nämlich unterm Strich 19 Millionen Mark, sondern auch welches einspielen wird. Geld beispielsweise für die „Kulturszene, deren Förderung wir in den vergangenen Jahren schon verdreißigfacht haben“.

Ich streife um die Baustelle herum, finde am Bauzaun die Meinungen der Leute im Stenogramm vor und frage mich, warum sich eigentlich niemand über die neue Tiefgarage aufregt, aber alle Welt über den künftigen Kulturtempel. Nun, die Wiesbadener werden selbst entscheiden, ob sie ihn haben wollen oder nicht – mit einem BürgerInnenentscheid gemäß der Hessischen Kommunalverfassung.

Der Bus fährt hinaus nach Dotzheim. Von weitem eines der Betonplattenviertel wie im deutschen Osten. Ältere Leute und Kinder steigen unterwegs ein. Nein, ich habe mich nicht verguckt, da war doch eine Karl-Marx-Straße. Die Siedlung führt den schönen Namen „Schelmengraben“, ist nicht groß und wird durch Grünanlagen zusammengehalten.

Hier draußen sieht nichts mehr nach Beamtenstadt aus. Die rückt dezent und nobel während der Busfahrt zum Neroberg ins Bild. Wer in diesem Viertel wohnt, kann wohl, so er denn möchte, die deutschen Einheitsschmerzen als Fußnote der Geschichte abhaken. Ich höre beim Aussteigen, wie ein junger Mann eine Dame aufklärt: „Sie hätten sich vorhin ruhig neben den schwarzen Mann setzen können, die beißen nicht.“ Eine Wahrheit, die die Dame etwas zu irritieren scheint.

Den Gipfel des Nerobergs krönt ein kleiner Tempel, Wahrzeichen des Wiesbadener Weingutes. Eine eindrucksvolle Fernsicht auf das Rhein-Main-Gebiet eröffnet sich von diesem Ort. Vor zwei Jahren ist die gesamte Anlage des Neroberges erneuert worden. Wiesbaden will Touristen, vor allem aber zahlungskräftige Kongreßgäste anlocken. Die Alternative zur Weltkurstadt: wunderschön zwischen Rhein und Taunus gelegen, eine erstklassige Adresse fürs Geld in den angenehmen Stunden des Lebens.

Die deuten sich nun langsam mit der Dämmerung an. Ich fahre in die Altstadt zurück, lasse mich treiben, nehme einen gesunden Schluck vom Bäckerbrunnen, bis ich in der Grabenstraße von Jazzklängen festgehalten werde. Die älteste Weinstube der Stadt, und am Piano ein begnadeter Musiker. Keine Szenekneipe. Ältere Damen sitzen ihren Montagstreff ab, junge Pärchen an den Ecktischen, eine Männerrunde und der Unterwelttyp am Tresen.

Es gibt Beifall für die Musik und lebhafte Gespräche. Die Damen kennen sich bei Hoechst aus. Eine meint, der Chemieunfall sei eine Sauerei, die andere weiß von „Herrn Professor“, daß die „ganze Presse angezeigt gehört“, wegen Falschinformation.

So richtig einig werden sie sich nicht, ob Hoechst nun „Mistvieh vom Dienst“ oder tatsächlich Schuld an einem Umweltverbrechen sei. Erst beim Thema Wahlen vertragen sie sich wieder. „Ich habe mein ganzes Leben noch nie etwas anderes gewählt als CDU“, verkündet die eine. Und es hört sich wirklich gut an, wie diese Ansprache einfach so weggejazzt wird. Dem Pianisten macht das sichtlich Freude.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen