: Mit Blaulicht gegen den Bürgermeister
Greußen in Thüringen wird seinen Bürgermeister mit krimineller Vergangenheit nicht mehr los/ Weder Feuerwehreinsatz noch Ratssitzungen fruchten gegen Hans-Günther Achtert ■ Aus Greußen Marita Vollborn
Stoßweise reißt blaues Licht die Konturen des Greußener Rathauses aus dem Dämmerlicht dieses anbrechenden Februarmorgens; gespenstisch groß erscheinen für Sekunden die Risse und Spalten der bröckelnden Fassade. Dutzende von Stiefelpaaren waten durch Pfützen, rutschen über das regennasse Kopfsteinpflaster, formieren sich schließlich zu Gruppen. Die Bewohner der umliegenden Häuser, vom Stimmengewirr angelockt, blinzeln neugierig und erstaunt durch die angeschlagenen Scheiben ihrer Fenster. Wo das Radio läuft, weiß man endlich Bescheid: Aus dem Greußener Rathaus wird der Bürgermeister ausgesperrt, blockiert die Feuerwehr sämtliche Zufahrten.
„Ich bin hergekommen, um gegen unseren Bürgermeister zu demonstrieren“, erklärt Werner Gottschalk, seit vierzig Jahren Feuerwehrmann in der Thüringer Kleinstadt, und: „Ich dachte, bald wird alles anders. Aber der neue Bürgermeister ist ja noch schlimmer als der alte.“ Und wirklich: Die Greußener hatten wenig Glück mit ihren Stadtoberhäuptern. Dem ersten brachen seine gepflegten Stasi-Kontakte das parlamentarische Genick. Der zweite nutzte den ost-westdeutschen Aufwind, um trotz umfangreichen Vorstrafenregisters in der Kleinstadt zu landen: Hans-Günther Achtert (CDU).
Achtert war schon einmal Bürgermeister. Zehn Jahre lang amtierte er als Rathauschef im Dürmentinger Gemeinderat des Landes Baden-Württemberg. Im Herbst 1988 brachte ihn dann seine grenzenlose Liebe zum Geld zu Fall: Das Landgericht Ravensburg verurteilte ihn zu 16 Monaten auf Bewährung und 5.000 Mark Bußgeld wegen Untreue, Urkundenfälschung, Vorteilsnahme und Anstiftung zur Falschbeurkundung – eine Strafe, die auf alle Zeit eine Bürgermeisteranstellung unmöglich gemacht hätte.
Nicht aber in Greußen. Hier bewarb sich der Dürmentinger als einer von 16 Anwärtern um das höchste Amt im Rat und wurde mit offenen Armen empfangen: Im November 1991 erkoren ihn die Greußener Stadtverordneten zu ihrem Oberhaupt.
Die Frauen und Männer des Stadtparlaments waren beeindruckt von der Ausstrahlung Achterts, dessen Sachkompetenz und parlamentarischer Erfahrung. Sie waren so tief beeindruckt, daß sie vergaßen, die Vollständigkeit seiner Bewerbungsunterlagen zu überprüfen. Denn etwas hatte Hans-Günther Achtert wohlweislich nicht beigefügt: das polizeiliche Führungszeugnis. „Wenn das dabeigewesen wäre, hätten wir ihn nie zum Bürgermeister gemacht“, meint Joachim Witters (SPD) etwas kleinlaut.
Immer mehr Leute gesellen sich unterdessen zu den Parlamentariern, die die ganze vergangene Nacht getagt und sich schließlich zu dieser ungewöhnlichen Aktion entschlossen hatten. „Unsere Demonstration ist ein Aufschrei. Wir wußten keinen anderen Ausweg mehr, um zu zeigen, wie unerwünscht Herr Achtert hier ist“, sagt Peter Georgi, Tischler und Unternehmer in Greußen. Das Schild, das links neben der Rathaustreppe lehnt, fertigte er noch im Morgengrauen. „Achtert raus aus dem Rathaus“ steht darauf in unsicheren Lettern geschrieben.
Die Einwohner, deren Schar mittlerweile auf über fünfzig Leute angewachsen ist, erwarten mit zunehmender Ungeduld ihren Bürgermeister. Man spekuliert über den regulären Arbeitsbeginn des Stadtobersten, errechnet die von seiner Wohnung bis zum Rathaus benötigte Zeit, fiebert und hält Ausschau. Doch er, Mittelpunkt des kalten Krieges in Greußen, kommt nicht. „Noch nicht“, sagen die einen, „überhaupt nicht“, meinen die anderen. Grund, seinen Bürgern aus dem Weg zu gehen, hätte Hans-Günther Achtert – an der Nase herumgeführt hat er sie schließlich alle.
Als er im Frühjahr letzten Jahres auch noch Standesbeamter der 4.700-Seelen-Gemeinde werden will, offenbart sich die kriminelle Vergangenheit des Bürgermeisters: Landrat Peter Hengstermann (CDU) forderte das polizeiliche Führungszeugnis an. Zwar hatte der Landrat bereits im Frühjahr einen Hinweis zur Vorstrafe Achterts erhalten, doch dem anonymen Anruf in der Lokalzeitung wollte damals niemand nachgehen. In einem Gespräch unter vier Augen wies Achtert alle Vorwürfe weit von sich – erfolgreich, denn Landrat Hengstermann schenkte den Worten des redegewandten Politikers Glauben.
Obwohl die Vorstrafe Achterts bereits im Frühjahr bekannt wurde, erwachte erst im Herbst vergangenen Jahres die Verwaltung aus ihrer Lethargie. Das Stadtparlament spaltete sich in zwei Lager: die einen wollten Achtert so schnell wie möglich loswerden, die anderen setzten alles daran, ihn zu behalten.
Trotz anhaltender Zwistigkeiten und Probleme mit der neuen, weil altbundesdeutschen, Rechtsordnung stimmte der Stadtrat Anfang Dezember schließlich doch ab. Bei drei ungültigen und neun Gegenstimmen entschied sich das Parlament mit der Mehrheit von einer Stimme gegen Achtert. Mit dieser Abstimmung legten sich die Parlamentarier ein Kuckucksei ins Nest – Stein des Anstoßes für CDU und Freie Wählervereinigung, Achterts Befürworter; Grund zur Freude bei SPD und FDP, Achterts Widersacher.
Denn das Netz der Bürokratie ist engmaschig, klebrig und verstrickt Unwissende in ein Geflecht von Auslegungsmöglichkeiten. Laut Kommunalordnung nämlich wären 12 Stimmen notwendig gewesen, um Achtert abzusetzen; dagegen reichen laut Kreisverordnung 10 Stimmen aus. Das Thüringer Innenministerium entschied: Die Greußener StadträtInnen müssen noch einmal wählen. Groß war der Jubel bei der CDU-Fraktion, die ihren Bürgermeister „wegen seines kompetenten Auftretens“ gleich am nächsten Morgen wieder im Amt sehen wollten. Sie jubelten zu früh: Die Opposition entschloß sich, Achtert mit Feuerwehrunterstützung den Zutritt zum Rathaus zu verweigern.
Landrat Hengstermann, der den demonstrierenden Parlamentariern aus der Kreisstadt Sondershausen zu Hilfe geeilt ist, will die Entlassung Achterts auf jeden Fall durchsetzen; wenn nötig, wird er selbst den Bürgermeister des Amtes entheben. Allerdings hofft er auf die baldige Entscheidung der Stadtverordneten per Wahl. „Gewählt werden muß bis Mitte März, denn dann ist das halbe Jahr verstrichen, in dem die Stadtverordneten ihren Bürgermeister absetzen können.“ Noch ahnen die Menschen vor dem Rathaus nicht, daß auch bei der nächsten Abstimmung am 9. März ein Formfehler begangen und dadurch die Abwahl Hans-Günther Achterts ungültig sein wird: Statt der gesetzlich geforderten offenen Wahl stimmen die Parlamentarier auf Antrag der CDU-Fraktion geheim ab – und wieder ist die Abwahl ungültig. Der Grund für die christdemokratische Treue zum Bürgermeister erscheint unlogisch: Achtert hielte wenigstens das Geld zusammen. Gemeint sind Fördermittel für die Stadt Greußen in Höhe von 3,5 Millionen Mark, die der Bürgermeister nicht ausgab. Daß dieses Geld allerdings verfällt, wenn es nicht objektbezogen – beispielsweise im Straßenbau – verwendet wird, dürfte den CDU-Parlamentariern auch klar sein.
Die Menschenmenge, die den schmalen Platz zwischen den beiden Feuerwehrwagen unterdessen vollständig ausfüllt, debattiert aufgeregt. Die Leute sind entrüstet, daß sich Stadt- und Landrat so viel Zeit lassen, können die Verschlungenheit der Rechtswege nicht verstehen. „Vor allem ist es ja unser Geld, das verlorengeht“, ärgert sich Hans Führ von der PGH Fama. Und er hat recht: Wenn nicht das Parlament die Absetzung Achterts entscheidet, stehen die Chancen des Bürgermeisters gar nicht so schlecht, von der Stadt Greußen bis zum Ende der Legislaturperiode 75 Prozent seiner Bezüge zu bekommen.
Außerdem schuldet Hans-Günther Achtert der Stadt noch knapp 40.000 Mark. „Als er sein Amt antrat, setzte er sich selbst sein Gehalt fest“, so Heinz-Ludolf Klopsch vom Rechtsamt Sondershausen, der ebenso wie Landrat Hengstermann zu der Demonstration angereist ist. „Der neue Bürgermeister ließ den Vertrag von seinem Stellvertreter Horst Wiesemann und dem damaligen Stadtverordnetenvorsteher Horst Drückler unterschreiben.“ Achtert baute auf die Unerfahrenheit der beiden; seine Begründung für das hohe Gehalt: im Westen würde ihm die gleiche Summe ausgezahlt werden. Dazu Heinz-Ludolf Klopsch: „Bis Dezember letzten Jahres erhielten Beamte im Osten 60 Prozent der Bezüge ihrer westlichen Kollegen. Laut Bundesbesoldungsgesetz und Besoldungsübergangsverordnung bekommen sie seit Dezember 74 Prozent. Das Gehalt, das sich Herr Achtert auszahlen ließ, übersteigt sogar das eines westdeutschen Bürgermeisters.“
Auch in Grundstücksfragen handelte Achtert nicht gerade im Interesse der Stadt. Als es darum geht, für die Feuerwehr ein Grundstück im Wert von 103.000 Mark von der Treuhand zu erwerben, verstrickt sich Achtert in undurchsichtige Geschäfte: Er verhandelt mit angeblichen Treuhandmitarbeitern, von denen einer nicht mehr, der andere nie beschäftigt war; der Kaufantrag verschwindet schließlich auf mysteriöse Weise. Dadurch konnte der jetzige Besitzer der Stadt einen Pachtvertrag über fünf Jahre und nach deren Ablauf einen Verkaufspreis von 950.000 Mark anbieten.
Was Hans-Günther Achtert daran reizt, daß sich der Wert des Geländes versiebenfacht, bleibt spekulativ.
Geäußert hat sich der Bürgermeister bisher dazu nicht. Auch an diesem Februarmorgen hoffen die Einwohner umsonst auf seine Stellungnahme. Stellung bezieht Achtert zu Hause, in seiner Stadtwohnung über dem ehemaligen Landambulatorium. „Natürlich werde ich versuchen, weiter als Bürgermeister in Greußen und vor allem für Greußen tätig zu sein. Dieses Amt innezuhaben heißt nicht nur, einen Beruf auszuüben – für mich ist es eine Berufung.“
Wie lange Greußen nun noch mit Bürgermeister Achtert leben muß, steht in den Sternen. Wegen der gescheiterten Abwahl vom 9. März wird jetzt Landrat Hengstermann aktiv werden müssen – auf dem Wege der Ersatzvornahme. Das aber gibt Achtert die Möglichkeit, auf Weiterzahlung seines von ihm selbst festgelegten Gehalts bis 1995 zu klagen. Und damit dürfte Greußen seinen Bürgermeister zumindest finanziell noch lange nicht loswerden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen