: „Unser Vaterland drückt kein Despote mehr!“
Das erste demokratische Experiment in Deutschland wurde vor genau 200 Jahren in Mainz begründet: der Rheinisch-Deutsche Nationalkonvent/ An das kurze Leben eines zweiten deutschen Staates erinnert ■ Christoph Danelzik
Nach der Befreiung vom Faschismus schenkten die Alliierten dem westdeutschen Volk die Demokratie zurück, die es zwölf Jahre zuvor zertreten hatte. Nicht die Weimarer Eigenbau-Republik hatte Bestand, sondern es bedurfte der Importmodelle, um die Volkssouveränität in Deutschland zu verankern. Kaum beachtet wird gewöhnlich, daß dieser Vorgang bereits einmal durchgespielt wurde. Er ist schon lange her, war nur von kurzer Dauer und betraf einen winzigen Landstrich. Dieses erstaunliche Experiment ist die Mainzer Republik 1792–93. Für wenige Monate wurde die Provinzstadt zum Klein-Paris: die Bevölkerung wurde schlagartig politisiert; „man macht Projekte – man harangiert – gestikuliert nach den vier Weltgegenden hin – will das Volk aufklären“, spottete und klagte ein Beobachter. Dagegen frohlockte die Revolutionsfreundin Caroline Böhmer: „Welch ein Wechsel seit acht Tagen ... in seinem (des kurfürstlichen Schlosses) Prachtsaal versammelt sich der Deutsche Jakobiner-Club – die National-Kokarden wimmeln auf allen Gassen – die fremden Töne, die der Freiheit fluchten, stimmen vivre libre ou mourir an.“ In Karnevalsstimmung machte sich Mainz auf den Weg von der Fürstenresidenz zur Republik.
Im Sommer 1792 eskalierte die Propagandaschlacht. Ein auf Betreiben Marie-Antoinettes verfaßtes ultimatives Manifest des preußischen Heerführers löste den Tuilleriensturm aus, dem der Angriff auf Frankreich folgte, welcher die Abschaffung der Monarchie beschleunigte. Ab Ende September 1792 besaß die Revolutionsarmee Oberwasser und drang ihrerseits ins Rheinland vor. In Anspielung auf die in der preußischen Armee grassierende Diarrhoe erklang das Spottlied „vom großen vereinigten Schiß der Preußen und Österreicher“, dessen Zeuge bekanntlich Goethe war: „Unserm Land, woe Freiheit schafft, / Wollt ihr den Ruhm entreißen; / Doch mit eurer Fassungskraft / Habt ihr alle aufgerafft / Das Scheißen, das Scheißen, das Scheißen.“
Befehlshaber der französischen Rheinarmee war Adam Philippe Comte de Custine, ein General, dessen strategisches Talent hinter seinem politischen und psychologischen zurückblieb. Es hatte zur Folge, daß er seine schlecht ausgerüstete und ausgebildete Armee enorm motivierte und zu vorübergehenden Erfolgen führte und daß er das besetzte Land politisch für die Revolution gewinnen wollte. Ideologische Kriegführung war bis dahin unbekannt. Einen gewissen Erfolg hatte er links des Rheinufers, während in Hessen die Landbevölkerung teilweise eine Guerrilla bildete.
Intellektuelles Zentrum am Mittelrhein war Mainz, Sitz eines Kurfürsten und einer kleinen Universität. Der Kurfürst Joseph von Erthal und sein Koadjutor Karl Theodor von Dalberg zählten nicht zu den reaktionärsten Potentaten im Reich, wofür eine bescheidene Bildungsreform in den achtziger Jahren ebenso spricht wie die Berufung aufgeklärter Gelehrter an die Hochschule. Ihr prominentester Angehöriger war Georg Forster. Als Siebzehnjähriger nahm er an der zweiten Weltumsegelung des britischen Kapitäns James Cook (1772–75) teil. Sein Reisebericht ist ein außergewöhnliches Beispiel einer ethnographischen Perspektive, die den eurozentrischen Blick problematisiert, ohne zu sehr das Bild des „Wilden“ zu romantisieren. Eine ausreichend dotierte Professur erhielt er nicht, schließlich landete er als Bibliothekar in Mainz. Als Publizist erneuerte er seinen Beruf. In seinen „Ansichten vom Niederrhein“ (1791) verarbeitete er eine im Vorjahr unternommene Reise, die ihn von Mainz über Köln und Amsterdam nach Paris geführt hatte. Vor allem dieses Buch nötigte Friedrich Schlegel 1797 zu seinem Urteil, Forster sei einer der bedeutendsten deutschen Prosaisten. Sein Lob war gewagt, weil Forster in den „Ansichten“ neben ästhetischen Reflexionen – am wichtigsten war sein Beitrag zur Gotikrenaissance – ausführlich auf die buntscheckige politische Landschaft einging: er sah das Rheinland unter der Pfaffenherrschaft krebsend, in den Niederlanden Wohlstand durch bürgerliche Freiheiten, in Belgien die Folgen der katholischen Reaktion nach erfolgversprechenden Reformen, in Frankreich schließlich eine Gesellschaft in Aufbruchstimmung, die trotz aller Anfeindungen die Aufklärung in einer neuen Gesellschaftsordnung umsetzte. Selbst Forscher jedoch, ein avancierter, aber keiner der radikalsten deutschen „Jakobiner“, dachte er nicht daran, daß die Revolution auch in Deutschland stattfinden könne – bis im Oktober die Revolutionsarmee vor der Tür stand.
Am 23.Oktober 1792, zwei Tage nach der Kapitulation der Festung Mainz, bildete sich nach dem Vorbild des Pariser Jakobinerklubs die „Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit“. Unter französischem Schutz entwickelten ihre Mitglieder eigenständige politische Pläne. Sie korrespondierten mit den Klubs in Straßburg und Savoyen, das bereits die Vereinigung mit Frankreich anstrebte. Auch die deutschen DemokratInnen blickten hoffnungsvoll über den Rhein. Noch ehe in Paris über eine Verschiebung der Landesgrenzen nach Westen diskutiert wurde, forderte der Mainzer Klub die Rheingrenze. Mittelfristig sollte sich die Region also dem Mutterland der Freiheit anschließen, denn es war klar, daß die zwei denkbaren Alternativen utopisch waren: eine Revolution im gesamten Reich bzw. ein zweiter deutscher Staat. Kurzfristig aber wurde er errichtet. Wann die Mainzer Republik begann, ist schwer zu sagen. Es ist üblich, ihre Dauer von der Klubgründung an zu rechnen, um ihren politischen Charakter zu betonen. Administrativ bildete sie sich erst später. Gegen Ende des Jahres wurden Wahlen vorbereitet, die dem entstehenden Gebilde demokratische Fasson gaben. In Mainz und in den Landgemeinden und -städten sollte ursprünglich sogar über die Staatsform abgestimmt werden, einschließlich der Möglichkeit, sich für das alte Feudalsystem zu entscheiden. Angesichts der wackeligen militärischen Lage setzten die französischen „Militärberater“ die Zwangsdemokratisierung durch. Nun blieb nur zu entscheiden, wer in das erste deutsche Parlament gewählt wurde.
Über 400 Mitglieder zählte der Klub auf dem Höhepunkt seiner Arbeit, zu ihnen zählten Professoren, Kaufleute ebenso wie Angehörige der Unterschichten und Landleute. Für sie vor allem waren pädagogische Vorträge Georg Wedekinds gedacht, deren Lehrstoff Freiheit, Gleichheit und Demokratie waren. Groß war die Zahl der Flugschriften, die ihre Botschaften auch poetisch verkleideten, es entstanden Lieder, Gedichte und republikanische Gebete. Das „Trinklied der freien Mainzer“ parodierte ein Rheinweinlied von Matthias Claudius: „Nun kränzt mit Laub den liebevollen Becher, / Und trinkt ihn fröhlich leer, / Denn unser Vaterland, ihr lieben Zecher, / Drückt kein Despote mehr!“
Von den Wahlen zum rheinisch- deutschen Nationalkonvent blieben die Territorien der neutralen Kurpfalz ausgenommen, so daß sich die Republik aus zersplitterten Herrschaftsgebieten zusammensetzte. Orte, in denen die Revolution begeisterte Zustimmung fand, lagen solchen benachbart, die sie strikt ablehnten. Mit den heutzutage üblichen Quoten ist die damalige Wahlbeteiligung nicht zu vergleichen, aber doch erstaunlich (soweit nachweisbar, etwa 20 Prozent). Günstiger noch war die Akzeptanz der Verwaltungsreform.
Als nach den Wahlen im Februar und März die 128 Abgeordneten am 17.3. zusammentrafen, war das Ende der Republik bereits absehbar. Militärische Fehler gefährdeten die französische Position. Der Konvent, innerhalb der von den Besatzern gesteckten Grenzen demokratischer als das Pariser Vorbild, traf in den zwei Wochen effektiver Arbeit mehrere revolutionäre Entscheidungen. Er hob für das Land von Bingen bis Landau die Feudalordnung auf und konstituierte den rheinischen Freistaat. Danach widmete er sich nur mehr einem zentralen Thema: dem Antrag auf Anschluß des Rheinlands an Frankreich. Georg Forster, der Parlamentsvizepräsident, leitete die Abordnung, die am 25.März aufbrach. Vom Herzen der Revolution aus versuchte er, seine Landsleute für die Demokratie zu gewinnen. Ein Jahr später starb er an Hunger und Krankheit.
Der Konvent regelte noch die Behandlung der RevolutionsgegnerInnen und die Munizipalisierung der Gemeinden, als mit der Schlacht bei Neerwinden am 28. das Revolutionsheer zum Rückzug gezwungen wurde. Am Monatsende löste sich der Konvent auf und wurde durch eine Besatzungsverwaltung ersetzt.
Im Juli kapitulierte Mainz, und in der brutalen Reaktion des neuen alten Regimes sollten die FreundInnen der Demokratie endgültig mundtot werden – vergeblich. Nach erneutem Wechsel des Kriegsglücks wurde das Gebiet bis zum Ende der napoleonischen Herrschaft französisch. Als Provinz war die Region freier als das französische Kernland und konnte ihre republikanische Rechtsordnung sogar bis 1848 verteidigen. Im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung waren die deutschen JakobinerInnen noch zur Zeit des Hambacher Fests 1832 und bis zur Märzrevolution lebend.
Über die Geschichte der Mainzer Republik entbrannte in den 1970er Jahren ein bis 1989 andauernder und vehement geführter Historikerstreit, der außerhalb der Zunft wenig bemerkt wurde; die Kontroverse um die „frühbürgerliche Revolution“ versus „Bauernkrieg“ anläßlich des Lutherjahres 1983 war plastischer zu inszenieren, von der Debatte um die Historisierung des Nationalsozialismus ganz abgesehen.
Als 1977 in Stuttgart mit der Staufer-Ausstellung dem bundesrepublikanischen Selbstverständnis feudale Wurzeln verpaßt wurden, hatte ein Ostberliner Historiker gerade die ersten Schritte getan, um das republikanische Erbe des deutschen Volks zugänglich zu machen. Heinrich Scheel publizierte mehrere Quellenwerke; zuerst einen Band mit Flugschriften süddeutscher Jakobiner, 1975 folgte der erste Teil mit Dokumenten zur Mainzer Republik. Eine Mainzer Dissertation von Franz Dumont revidierte 1978 das dort gebildete Puzzlebild durch eine andere Auswahl und Lektüre unveröffentlichter Quellen. Einzigartig ist dieser Historikerstreit also schon durch die verwandten Mittel, zeigt er doch, daß positivistische Forschung – aufgrund ihrer aus der Objektivität sprießenden Autorität – hervorragend geeignet ist zur ideologischen Auseinandersetzung. Umstritten war zuletzt weniger der Sachverhalt als die Beurteilung. Ein Optimist sieht ein Weinglas halbvoll, für den Pessimisten ist es halbleer. Vier Jahre nach dem Fall der Mauer interessiert nur noch der Inhalt des Glases.
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