„Jelzin und unsere Bürgerrechte verteidigen!“

■ Am Sonntag vormittag demonstrierten in Moskau Tausende Anhänger des russischen Präsidenten – auf der Gegenseite standen nur etwa zweihundert

Seit einer Woche schon hatte sie in der Luft gehangen, die Erklärung des Ausnahmezustandes durch Boris Jelzin. Und so ist es kein Wunder, daß am Sonntag morgen schon gegen 10 Uhr zwei offenbar vorbereitete Demonstrationen in der Moskauer Innenstadt auszumachen waren. Vor dem Moskauer Stadtsowjet hatten sich die Anhänger des Präsidenten versammelt, vor dem Weißen Haus dagegen lautete die vorherrschende Parole diesmal: „Nieder mit Jelzin!“. Hier gaben sich die Anhänger der konservativeren Parlamentsfraktionen, Altkommunisten und Mitglieder des Veteranenverbandes ein Stelldichein. Die russischen Medien schätzten im Laufe des Tages die Teilnehmerzahl der ersten der morgendlichen Kundgebungen sehr abweichend voneinander auf dreitausend bis zehntausend BürgerInnen ein, die der zweiten auf etwa zweihundert. In den zahlreichen Rundfunk-Magazinsendungen wurden ausführlich Demonstranten-Stimmen zitiert. „Wir sind hierhergekommen, um die Konstitution vor einem selbsternannten Diktator zu schützen, das ist ein Umsturzversuch, und wir werden ihn parieren!“ sprach ein äterer Herr, der ausgerechnet ein Stalin-Portrait am Revers trug, vor dem Weißen Haus ins Mikrophon.

Die vor Wut schäumenden Demonstranten bemühten sich in ihren Aussagen für den Äther meist um Mäßigung und gaben sich als Vertreter der formalen Korrektheit: „Ich bedaure sehr, daß Jelzin offenbar nicht fähig ist, sich an die Konstitution zu halten“, sagte eine ältere Dame. Ein Kriegsveteran gab sich offener: „Diese ganze Regierungsbande gehört ins Irrenhaus, sie haben das Volk an den Bettelstab gebracht, unsere nationalen Reichtümer im Ausland verschleudert und Moskaus Straßen in ein Bordell verwandelt.“

Da die Russen in Konfliktfällen immer schnell mit dem „Bordell“ bei der Hand sind, spielte dieser Begriff auch auf der Demo vor dem Mossowjet seine Rolle. „Höchste Zeit, daß Jelzin dieses parlamentarische Bordell dichtmacht!“, diese Meinung erklang hier aus mehreren Mündern zugleich. Ansonsten war die Stimmung eher heiter. Viel beklatscht wurde die Losung „Chasbulatow nach Tschetschenien!“, der Parlamentssprecher stammt aus Tschetscheno-Inguschetien, einer Region, deren Militärdiktator Dudajew schon seit längerem ihren Austritt aus der Russischen Föderation proklamiert hat. „Weil wir den Präsidenten direkt gewählt haben, hat er nicht nur das Recht, sondern in der Krise sogar die Pflicht, sich direkt an uns als das Volk zu wenden!“ argumentierte hier eine Ingenieurin in mittleren Jahren.

Über Monate haben die Anhänger des konservativen Parlamentsflügels es verstanden, die eigenen Emotionen autosuggestiv hochzupeitschen, sie beherrschten fast ausschließlich die Straßen, während sich unter den ehemaligen Anhängern der demokratischen Bewegung Passivität breitmachten. An diesem Sonntag bevölkern sich die Straßen der Moskauer Innenstadt zunehmend.

Meine Freundin Xenija, die im August 91 drei Tage und zwei Nächte vor dem Weißen Haus aushielt, äußerte sich in letzter Zeit extrem kritisch über den Präsidenten. Ich habe sie angerufen, um zu fragen, ob sie wieder bereit wäre, auf die Barrikaden zu gehen, falls sich die Konfrontation verschärft: „Ganz bestimmt“, antwortete sie, ohne mit der Wimper zu zucken, ich würde Jelzin verteidigen, und zwar nicht als Person – das habe ich damals auch nicht getan –, sondern als Bürgen für meine eigenen Rechte, die das Parlament permanent verletzt. Aber welche Macht hat er jetzt, um den Zynikern um Chasbulatow entgegenzutreten? Jelzin hat keinen Matrosen Schelesnjak.“ Der Matrose Schelesnjak, der Name bedeutet auf deutsch: „Der Eiserne“, hatte im Namen der Bolschewiki 1918 die lang debattierende konstituierende Versammlung im Taurischen Palais in Petrograd aufgelöst. Xenija würde ihn am liebsten an der Tür des gegenwärtigen Kongresses der Volksdeputierten wiedersehen. Das Argument, mit dem der Matrose damals die Deputierten nach Hause schickte, lautete: „Die Wache ist müde.“ Barbara Kerneck, Moskau