: Widersacher Jelzins blasen zum Gegenangriff
■ Das Parlament reagierte sofort auf Jelzins Versuch, eine Präsidialverwaltung einzurichten/ Verfassungsgericht berät über den Erlaß
Moskau (AFP) – Der Machtkampf zwischen dem russischen Präsidenten Boris Jelzin und dem Parlament hat am Wochenende mit der Einführung der Präsidialverwaltung durch Jelzin einen neuen Höhepunkt erreicht. Jelzin sagte am Samstag abend in einer Fernsehansprache an das russische Volk, sein Dekret solle bis zum 25. April gelten. Dann solle das Volk in einem Referendum über den Präsidenten sowie über eine neue Verfassung entscheiden. Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow verurteilte den Schritt Jelzins am Sonntag nachmittag auf einer eilig einberufenen Sondersitzung des Parlaments als verfassungswidrig. Von einem „Staatsstreich“ sprach Verfassungsgerichtspräsident Waleri Sorkin. Dagegen stellte sich die russische Regierung unter Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin hinter den Präsidenten. Verteidigungsminister Pawel Gratschow warnte vor zunehmenden Spannungen innerhalb der Armee. Unterdessen demonstrierten Tausende von Anhängern und Gegnern Jelzins in Moskau.
Jelzin hatte am Samstag in seiner mit Spannung erwarteten Ansprache erklärt, er wolle dem russischen Volk bei dem Referendum Gelegenheit geben, ihm selbst, seinem Stellvertreter Alexander Ruzkoi und dem Volksdeputiertenkongreß ihr Vertrauen auszusprechen oder zu entziehen. Zur Abstimmung stünden auch die Hauptpunkte einer neuen Verfassung, in der ein Volksdeputiertenkongreß nicht mehr vorgesehen ist. Die Bürger sollten in der Abstimmung auch über ein neues Wahlrecht entscheiden. Wenn die Vorlagen angenommen würden, sollten vorgezogene Neuwahlen abgehalten werden. Verteidungsminister Gratschow warnte vor allem vor Versuchen der konservativen Gruppierung „Offiziersunion“, die Streitkräfte in den politischen Machtkampf hineinzuziehen.
Jelzins Gegenspieler Chasbulatow hatte vor seiner Abreise aus der kasachischen Hauptstadt Alma Ata gesagt, er wolle wieder für „Recht und Ordnung“ sorgen. In seiner Rede zur Eröffnung der Parlamentssitzung rief Chasbulatow am Nachmittag die Abgeordneten auf, alle „verfassungswidrigen Handlungen“ Jelzins für „null und nichtig“ zu erklären. Weiter forderte er den Präsidenten in scharfem Ton auf, vor dem Parlament zu erscheinen. Anschließend bestätigten die Abgeordneten eine Erklärung des Parlamentspräsidiums vom Samstag, in der Jelzin vorgeworfen wird, er wolle eine Diktatur errichten. Vizepräsident Alexander Ruzkoi betonte vor dem Parlament, Jelzin habe das Recht, der Bevölkerung in einer Volksabstimmung die Vertrauensfrage zu stellen. Die Einführung der Präsidialverwaltung lehnte Ruzkoi dagegen ab.
Im Ausland hat Jelzins Erlaß breite Unterstützung gefunden. Die USA, Deutschland, Frankreich und andere Länder begrüßten vor allem die geplante Volksabstimmung über die zukünftige russische Verfassung. Hinsichtlich der von Jelzin errichteten Präsidialverwaltung betonten Politiker mehrerer Länder deren zeitliche Begrenzung. Allgemein wurden Jelzins Entscheidungen als nötiger Schritt aus der Verfassungskrise gewertet. Mehrere Staaten erinnerten daran, daß der Präsident im Gegensatz zum Parlament durch eine demokratische Wahl legitimiert sei. Jelzin hatte die Außenminister der führenden sieben Industrienationen und auch Frankreichs Präsident François Mitterrand vorab über seinen Schritt informiert. US- Präsident Bill Clinton will den russischen Staatschef weiterhin unterstützen. Der deutsche Regierungssprecher Dieter Vogel erklärte, die Bundesregierung verbinde mit Jelzins Maßnahmen die Hoffnung auf einen friedlichen Ausweg aus der Verfassungskrise. Durch den jüngsten Volksdeputiertenkongreß sei der Grundsatz der Gewaltenteilung einseitig zu Lasten des frei gewählten Präsidenten in Frage gestellt worden. Dagegen warnte der außenpolitische Sprecher der SPD- Bundestagsfraktion, Karsten Voigt, dringend davor, in dem russischen Machtkonflikt einseitig zugunsten Jelzins Partei zu ergreifen: „Es stehen nicht auf der einen Seite nur die Guten und auf der anderen Seite nur die Bösen.“ Tagesthema Seite 3, Dokumentation Seite 12
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