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Eine Chance – wie Schanghai

Berlin, aber auf keinen Fall nur Berlin. Ein Gespräch zur Stadtplanung, die Planung von Gesellschaft sein muß. Orte voller geistiger Energie gibt es überall. Nikolaus Kuhnert sprach  ■ Mit Richard Rogers

Der englische Architekt und Stadtplaner Richard Rogers, geboren 1933 in Florenz, war (mit Renzo Piano) Architekt des Centre Pompidou in Paris. Er ist verantwortlich für die Lloyd's of London headquarters und den Umbau des Billingsgate Fish Market. Zusammen mit Mark Fisher schrieb Richard Rogers das Buch „A New London“ (Penguin Taschenbuch 1992). Nikolaus Kuhnert, der die Fragen stellte, ist Architekt und Herausgeber der Zeitschrift „Arch+“. Das vollständige Gespräch (von mehr als doppelter Länge) veröffentlicht morgen die Zeitschrift „Lettre International“, der wir für die Gelegenheit zum Vorabdruck danken. uez

Nikolaus Kuhnert: Sir Richard Rogers, ist Berlin angemessen auf das 21.Jahrhundert vorbereitet?

Richard Rogers: Meine erste Erfahrung in Berlin nach dem Fall der Mauer war die Bauhaus-Konferenz 1991. Das war sehr interessant. Man hatte Architekten und Schriftsteller eingeladen und sie drei Tage lang in dieses wunderschöne Haus gesperrt, um über Berlin nachzudenken. Ich hatte mich allerdings dagegen ausgesprochen, daß wir ohne feste Hilfsmittel spekulieren sollten, wie vorgesehen. Berlin und Deutschland sind sehr konkret und man braucht Karten, man braucht die politische Geschichte, man braucht Wissen, als Ausgangsmaterialien. Dann kam ein ungeheurer Sprung von der völlig spekulativen Abstraktion zur Realität des Potsdamer Platzes. Hier stand alles im Kontext von Geschichte, von Vergangenheit. Wir gaben das Träumen auf, das viel zu träumerisch war, und sprangen in eine Vergangenheit, die viel zu stark in der Vergangenheit verhaftet blieb. Wir sprachen gewissermaßen über Barockarchitektur. Wir diskutierten über den Potsdamer Platz mit den Berliner Planern als wären wir plötzlich wieder im 19. Jahrhundert. Die Blöcke mußten Blöcke bleiben, der Verkehr mußte so bleiben, wie er war, die Straßenzüge mußten so bleiben, wie sie früher gewesen waren. Die Gebäude mußten eine bestimmte Höhe haben, weil das früher so war. Keine Hochhäuser. Keine Neustrukturierung. Das war interessant, dieser Sprung aus dem Traum in die Wirklichkeit der Vergangenheit – nicht in die Wirklichkeit von heute oder morgen. Das spiegelt einige der Probleme, vor denen wir in Berlin heute stehen.

Der Grund dieser Probleme liegt in dem, was Berlin zur größten „Opportunity“ im Westen gemacht hat – so wie Schanghai die größte „Opportunity“ im Osten ist. Der Abriß der Mauer hat die Menschen stark verunsichert. Die Welt hat sich plötzlich verändert, und jeder hat diese Veränderung gespürt. Und wie bei einem Erdbeben will man sich unwillkürlich an etwas festhalten, das fest steht – an einem Tisch, an irgend etwas Wirklichem. Das Problem ist, daß dabei so vieles „unter den Tisch fällt“. Berlin hat zwar eine großartige Geschichte, aber es gibt noch andere Orientierungsorte voller geistiger Energie; für den Intellekt gibt es nicht nur Berlin oder Deutschland, sondern auch die Docklands, La Defense, Greenwich Village und Jane Jacobs und Rem Koolhaas.

Berlin ist von einem Tag zum anderen eine andere Stadt geworden, eine Stadt mit Perspektive. Zuvor war es eine Insel außerhalb des Stromes von Europa. Mit der Wiedervereinigung besaß die Stadt plötzlich wieder eine Chance, europäische Metropole zu werden. Diese Perspektive kontrastiert aber stark mit den Einstellungen der Berliner, die die Entwicklungspotentiale der Stadt nur wahrnehmen wollen mit den Augen eines Leon Krier, der bekannt wurde als Spiritus rector der Modernismus-kritischen Interventionen von Prinz Charles.

Ich glaube nicht, daß sie die Dinge wirklich mit den Augen von Leon Krier oder der amerikanischen Stadttheoretikerin Jane Jacobs sehen. Das Faszinierende für mich ist dieser ungeheure Druck in Berlin – und wahrscheinlich überhaupt in Deutschland – sich bestimmten Mustern anzupassen. Zum Beispiel der Potsdamer und Leipziger Platz. Das waren früher Kreisel, Plätze mit Kreisverkehr. Die haben schon in den dreißiger Jahren nicht richtig funktioniert, weil der Verkehr viel zu stark war. Die Chancen, auf diese Weise mit dem Verkehr der neunziger Jahre fertigzuwerden, sind also gleich null. In der Tat zeigt sich das Scheitern schon jetzt. Dieser Gedanke, daß der Verkehr – das nur als Beispiel – gut ist, weil er nun mal da ist, ist äußerst merkwürdig. In Berlin findet eine Rückbesinnung statt nicht auf die Vergangenheit, sondern auf eine ganz bestimmte Periode, die Zeit um 1900; man geht nicht ins 18.Jahrhundert zurück – wie etwa Leon Krier ins 16.Jahrhundert oder in die Renaissance zurückgeht und Jane Jacobs ins Mittelalter.

Im 19.Jahrhundert, spätestens aber zu Beginn des 20.Jahrhunderts sind alle Muster und Strukturen der Moderne bereits vorhanden. Es gab das Auto, es gab den Fahrstuhl, es gab das Telefon, es gab Elektrizität. Man kann so vermeintlich auf die gleichen Modelle zurückgreifen, verändern muß man nur die Quantitäten, wenn man so will, während das beim Mittelalter nicht geht. Es geht nicht so sehr darum, Räume und Orte zu schaffen und eine bestimmte Form von Humanismus zu verfechten, sondern man klammert sich an irgend etwas Festes – sei es nun 1892, 1914 oder 1920. Damit bleibt das ungeheure Potential dessen, was später geschehen ist, ungenutzt.

Man kann starke Unterschiede zwischen einem architektonischen oder städtebaulichen Wettbewerb in Deutschland und einem in Frankreich konstatieren. Den Franzosen geht es in erster Linie um die Kunst – mit großem „K“ –, um Ästhetik und um Architektur – Jean Nouvel, Philippe Starck, Perrault sind alle monumental, künstlerisch, sehr frei. Dort geht es darum, dem Ruhm Frankreichs ein Denkmal zu setzen. Betrachtet man sich die Architektur von Jean Nouvel, dann sind seine Bauten sehr frei – manchmal quadratisch, manchmal dreieckig, alle mögliche Formen. Das ist praktisch Beaux- Arts-Architektur; die äußere Gestalt an sich ist wichtig. Bei jedem dieser Wettbewerbe geht es um ein kleineres oder größeres Denkmal oder ein Grand Projet. Das hat etwas Gefährliches, denn es macht die Architekten zu Stars und führt zu Monumentalismus; aber alles ist sehr frei – das stimuliert das schöpferische Vergnügen und den Einfallsreichtum der Architekten. In Deutschland dagegen – vor allem in Berlin – ist das das Allerletzte, was die Leute wollen. Ihr Ideal ist der Block. Alles sucht diesen Block. In Deutschland habe ich die Erfahrung gemacht, wenn man kein Quadrat baut, das im Idealfall achtgeschossig ist und nach außen hin keinerlei Abwechslung zeigt, wird man nicht einen einzigen Wettbewerb gewinnen. Norman Foster hat sich in seinem Reichstags-Entwurf daran orientiert. Eine ganz einfache Form. Raum. Das ist eine völlig andere Art von Kultur.

Hat Hitler Deutschland die Größe ausgetrieben?

Man muß sich doch fragen, warum es in Deutschland so wenig Spitzenarchitekten gibt. Das offenbart doch etwas. Natürlich gibt es gute Architekten in Deutschland, und wir wissen, daß es letzlich nicht das Problem von guten oder weniger guten Architekten ist, sondern das der Gesellschaft. Man kann nur annehmen, daß das mit dem Krieg zu tun hat. Wenn ich Goethe lese und mir diese Zeit ansehe, dann gab es damals größere Freiheiten in Deutschland als irgendwo sonst in Europa. Und eine poetische Kraft, die stärker war als ... sagen wir Shakespeare. Frankreich hatte in den letzten hundert Jahren ungeheure politische und andere Probleme. Frankreich hat in diesen lächerlichen Kriegen einen großen Teil seiner besten Jugend verloren. Und doch sieht Frankreich sich selbst eher in einem überhöhten Sinne, so wie de Gaulle oder Mitterrand überlebensgroße Figuren sind. Die Franzosen suchen gewissermaßen nach etwas, was größer ist als das Leben, auch in der Architektur. In Deutschland ist es genau umgekehrt – bloß nicht auffallen, unsichtbar sein.

Frankfurt ist eine Ausnahme. Dort gab es ungeheure finanzielle Möglichkeiten – und einen deutlichen Willen zu Größe und Repräsentation. Viele ausländische Architekten haben dort gebaut. Aber was ist das Ergebnis von 20 Jahren Hochhausbau? Um sieben Uhr abends werden die Bürgersteige hochgeklappt. Tote Fußgängerzonen, unzugängliche Bürohochhäuser, die Innenstadt ist ausgestorben. Die wenigen verbliebenen Passanten verlieren sich in Kulissenszenarien.

Es geht nicht so sehr um die Frage, ob man Hochhäuser oder niedrige Bauten bevorzugt, sondern welche Gesellschaft man aufbauen will. Ein zentraler Punkt dabei scheint mir die Bebauungsdichte zu sein. Ich bin für hochverdichtete städtische Räume. Das hat damit zu tun, daß ich gerne viele Menschen um mich habe; es hat aber auch mit verkehrstechnischen Überlegungen zu tun – je ausgedehnter eine Stadt ist, um so schwieriger wird es, sich zu bewegen, um so problematischer werden der öffentliche Personennahverkehr, der dafür notwendige Bedarf an Flächen, Geld und Energie. All das spricht für hochverdichtete Städte und nicht für flächenmäßig ausgedehnte Städte, die letztlich nur aus Vororten bestehen.

Warum funktioniert Frankfurt nicht am Abend, während New York durchaus funktioniert? Vieles in New York funktioniert nicht, aber in den besseren Gegenden funktioniert die Stadt. Von New York können wir etwas wichtiges lernen: Die Hochhäuser stehen direkt an der Straße, sie sind nicht zurückgesetzt. Während die Türme in Frankfurt meist nicht in der Straßenflucht liegen, sondern gewissermaßen in ihrem eigenen Garten. Sobald man ein Hochhaus auf diese Art und Weise zurücksetzt, wirkt es zunächst sehr viel mächtiger. Und man kann so im Untergeschoß keine Läden unterbringen, weil es keine Straße gibt. New York ist gewissermaßen nur ein fünfgeschossiges Gebäude, das auf 50 Geschosse aufgestockt wurde. In den besten Gegenden von New York ist der öffentliche Raum mit Läden, Theatern, Kinos usw. direkt an der Straße, ähnlich wie in einer Kleinstadt oder einer Dorfstraße, wenn man so will. Das macht die gelungenen Gegenden von New York so lebendig.

In Frankreich schätzen die Bürger die großen Symbole in Städtebau und Architektur; die teuren „Grands Projets“ sind Identifikationsmöglichkeiten mit der eigenen Kultur und dem Staat. In Deutschland hingegen scheint die Frage gebauter Symbole vor allem ein kameralistisches Thema zu sein. Vielleicht weil es weniger Schönheitssinn gibt, vielleicht weil die Regierung hier mehr Angst hat, der Verschwendungssucht gescholten zu werden. Ein Buchhalterdenken anstelle des Muts zur großen Geste.

Aber das ist durchaus kein sparsames Wirtschaften. Die Deutschen haben nichts dagegen, Geld auszugeben. Beim Reichstagswettbewerb war nicht Geld das Problem. Man wollte einfach kein so deutlich sichtbares Symbol. Es gibt verschiedene Arten, über die Zukunft nachzudenken. Ich glaube, wir müssen dem Individuum – jedem einzelnen von uns – ein größeres Gefühl von Verantwortung und ein größeres Gefühl von Engagement und Einbeziehung geben. Das ist weder den Deutschen noch den Franzosen bisher richtig gelungen.

Über Deutschland weiß ich zu wenig, aber die Franzosen versuchen es, auch wenn es meistens noch von oben nach unten geschieht; es gibt neue städtische Verfassungen, es wird stärker regional delegiert und anderes mehr. Man versucht, die Verantwortungbreiter zu fächern.

Sie erinnern sich sicher an das Architekturgespräch in Sanssouci – Sie und Renzo Piano auf der einen Seite, die Deutschen auf der anderen. Die Deutschen redeten in Bildern, Josef Paul Kleihues sogar in Gedichten, er zitierte Hölderlin und Heideggers Interpretation von Hölderlin. Was sind Ihre Eindrücke von einer solchen Maskerade tiefsten Deutschtums und des stärksten Leides an Deutschland, verbunden mit großer poetischer Kraft, aber ohne Entsprechung in der Architektur?

Kann ich etwas ganz Persönliches sagen? Ich finde, die Deutschen sind in der augenblicklichen Situation... fast krankhaft nationalistisch. Sie bleiben unter sich. Die Engländer machen das gleiche. Darin liegt eine Gefahr. Die Franzosen sind da viel offener. In Deutschland akzeptiert man uns als ausländische Architekten zwar, aber es gibt so etwas wie Fremdenangst, Angst vor dem fremden Architekten in diesem Falle.

Die schlimmsten Eindrücke dieser Art bekam ich beim Wettbewerb um den Potsdamer Platz. Wir waren im Gästehaus des Berliner Senats. Alle waren da. Das war eine der schrecklichsten Erfahrungen meines Lebens! Wir sollten eigentlich unseren Entwurf zeigen – Hillmar und Sattler zeigten den ihren, und dann sollten beide Entwürfe diskutiert werden. Wir sind kaum dazu gekommen, unseren Entwurf darzustellen. Man mag mich für einen schlechten Architekten halten; aber es waren 20 deutsche Architekten da: wir haben nicht eine einzige Stimme bekommen. Sie verhielten sich wie eine richtige Gewerkschaft. Ein Club. Eine Art von Schulterschluß aus politischen Gründen – das hat mir wirklich angst gemacht. Vielleicht liegt das wieder an den schwierigen Zeiten, die Deutschland durchmacht, die Teilung, die Mauer und all das. Aber es ist wichtig, darüber hinwegzukommen. Schließlich gibt es auch noch ein anderes Deutschland. Es ist von großer Bedeutung, daß die „professionals“ nicht nationalistisch werden, wie es in England ist.

Die Schaffung und Pflege des öffentlichen Raums ist das zentrale Anliegen Ihrer urbanistischen Projekte. Welche Art von öffentlichem Raum müßte Ihrer Meinung nach heute geschaffen werden?

Als ich von der Labour Party angesprochen wurde, ob ich einen Generalplan für London entwerfen würde, da habe ich gesagt, vergessen Sie das – die Tage solcher Pläne, wie der der MARS-Gruppe mit Arthur Korn von 1937 oder der Greater London Plan des London County Council unter der Leitung von Patrick Abercrombie von 1944 – sind längst vorbei, heute kann man das nicht mehr machen. Heute können wir uns nur noch über bestimmte Prinzipien unterhalten und über gemischte Siedlungsformen – das Konzept einer in sich geschlossenen, sich selbst tragenden Gesellschaft, in der man arbeitet, schläft, wo man Freizeitangebote zu Fuß erreichen kann usw. Das bedeutet nicht, daß man nicht trotzdem noch Entfernungen zurücklegen muß, zum Beispiel wenn man in die Oper geht oder zu einer Aufsichtsratssitzung fährt oder so etwas. Alles sollte möglichst in der Nähe sein. Was ist das Ideal? Ich selbst würde am liebsten in der Stadt auf dem Dorf leben. Deshalb versuche ich, in der Stadt gewissermaßen dörfliche Strukturen herzustellen. Wir haben die Vorstellungskraft, das Talent und die Ressourcen, um unsere Städte wieder zu beleben. Wir können schöne Gebäude errichten, baumumsäumte Alleen und neue Parks anlegen, wo Stimmen, Schritte und das Klingeln der Straßenbahn die meistgehörten Geräusche sind.

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