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Kriegstreiberei als kulturelles Phänomen?-betr.: "Gibt es ein Leben ohne Krieg?" von Achim Schmillen, taz vom 20.3.93

betr.: „Gibt es ein Leben ohne Krieg?“ von Achim Schmillen,

taz vom 20.3.93

Auch nach mehrmaligem Lesen bleibt mir unklar, was Mentzos bzw. Hondrich selber aussagen und was Interpretation bzw. Meinung des wissenschaftlichen Bündnis90/Grünen-Mitarbeiters Schmillen ist. Mit blumiger Sprache wirbt er für die ins „Schattenreich linker Tabu-Zonen verdrängten Funktionen des Krieges“: psychosozial und identitätsstiftend sei Krieg, Zusammengehörigkeit und gemeinsame Werte sowie ethno-kulturelle Identität vermittle er? Wie bitte?

Identität? Wollt ihr den totalen Krieg? Welch erhebendes Gefühl, ein Ja aus tausend Kehlen, ach wie gerne wären wir dabeigewesen?

Gemeinsamer Wert? Vernichtung des Bösen mit Gott für Kaiser und Vaterland?

Ethno-kulturelle Identität? Zeugen wir den vergewaltigten bosnischen Frauen kleine Serben?

Kollektive Weiterentwicklung durch kollektive Gewalt? Weiterentwicklung durch Auschwitz und Treblinka? Ja, es gibt sie, die Identität der SS-Totenkopf-Verbände oder auch die am Stammtisch der Stalingrad-Erinnerungen.

Was ist denn, Herr Schmillen, mit der Identität der Opfer? Wie sieht es mit dem psychosozialen Befinden zum Beispiel jener irakischen Menschen aus, die von US- Bulldozern lebendig im Sand zugeschaufelt wurden, wie sieht es mit dem Befinden der kurdischen Giftgasopfer aus?

Ethno-kulturell, bedeutet dies: ein Reich, ein Volk, ein Führer oder ein asylfreies Deutschland? Wer, bitte, beginnt denn Kriege? Ohne Ausnahme ein ganzes Volk gegen ein anderes? Was ist mit der Identität der Kriegsgegner? Die haben dann auch eine, wenn auch eine zwangsweise und nicht gewollte?

Die Botschaft der Autoren stellt für uns „Nachkriegsgeborene“ eine ungeahnte intellektuelle Herausforderung dar, so Schmillen. Für die „Vorkriegsgeborenen“ nicht, die hatten „ihren“ Krieg ja schon? Und wir bereiten uns schon mal geistig auf die Bundeswehr- Kampfeinsätze vor (oder wenigstens die Blauhelm-Einsätze), schließlich kann Krieg ja auch ein Medium der Konstitution sein.

Ach, Achim, meine Frage zum Schluß: Steht Konstitution hier für unsere neue Staatsverfassung oder eher für unsere körperlich-geistige Verfassung? Peter Kühn, Wiesenbach

„Gibt es ein Leben ohne Krieg?“ [...] Dem Autor Achim Schmillen, der sich in der taz über diese Fragestellung „rezensierend“ verbreitet, wäre sicher leicht nachzuweisen, daß es ein Leben ohne Krieg gibt, genauso wie es vice versa einen Tod ohne Krieg gibt. Daß dieser Autor dennoch mehrere Textspalten als vermeintlicher Rezensent in der taz bedenkenlos füllen konnte, um auf „die psychosoziale und identitätsstiftende Bedeutung des Krieges“, bei völliger Außerachtlassung der elementarsten Grundverhältnisse von Recht und Gerechtigkeit zu verweisen, erinnert fatal an die Lancierungen von Redakteuren des Völkischen Beobachters. Zudem betreibt der Schreiberling Schmillen pure Mystifikation, wenn er von einem „Schattenreich linker Tabuzonen“ redet, in welchem er die von den Buchautoren Stavros Mentzos und Karl Otto Hondrich apostrophierten Funktionen des Krieges, des Krieges als „existentielles Phänomen der Kulturentwicklung“, weitgehender Verdrängung ausgesetzt sieht. Derjenigen Funktionen eben, die auch für Schmillen von psychosozialer und identitätsstiftender Bedeutung sind, weil sie die „gestaltende Kraft für die Beförderung von Zusammengehörigkeitsgefühl, gemeinsamen Werten und ethnokultureller Identität bilden.

Indem uns der Autor dann noch – Max Scheler zitierend – sagt, daß ihm der Krieg „wie der rauhe Gehilfe jener letzten sammelnden, einheitsstiftenden Kräfte, die menschliche Gemeinschaft immer extensiver und intensiver gestalten“, erscheint, fällt er noch weit hinter das zurück, was bereits zur Zeit des Kalten Krieges in soziologischen Nachschlagwerken so alles an psychologischen und kulturpolitischen Feinheiten diesbezüglich festgeschrieben wurde – aber nicht nur das. Er kokettiert schamlos mit kriegslüsterner Nazi-Propaganda, indem er sich zu der Feststellung versteigt, „daß mit der Beförderung der ethnokulturellen Identität der Bogen schnell zum existentiellen Charakter des Krieges geschlagen wird“ und „daß kollektive Gewalt kulturelle Weiterentwicklung zur Folge haben könnte“. Hier fehlt nur noch der begriffliche Einbezug dessen, was vom Autor als kulturell weiterentwickelt (oder etwa menschlich höherwertig?) angesehen wird, und schon wäre die Adaption an den Nazijargon vollends auf den Punkt gebracht. Wenn hier also jenseits von Aufklärung und Condition humana kulturelle Weiterentwicklung durch kollektive Gewalt prinzipiell und scheinbar wertfrei in den Bereich des gesellschaftlich Möglichen gebracht wird, ist das schlichtweg faschistoid! Denn das, was da so wissenschaftlich verbrämt daherkommt, läuft bereits seiner „ethno-kulturellen“ oder rassenideologischen Aufladung entgegen.

Sollte Schmillen nun tatsächlich meinen, daß kulturelle Weiterentwicklung kollektive Gewalt zur Voraussetzung hat, bleibt nur noch für ihn zu hoffen, daß er selbst einmal einen Beitrag hierzu leistet. Insofern leistet, als ihm der „existentielle Charakter des Krieges“ höchst real zu Leibe rückt und die „kollektive Gewalt“ ihn in persona heimsucht oder ins „Schattenreich“ des deutschen Heldenmutes verbannt. Dann blieben uns wenigstens solche Artikel erspart – und das wäre wahrhaftig ein kultureller Fortschritt. John Sprigg

[...] Was macht die beiden vorgestellten Bücher so aufregend? Daß sie die „ins Schattenreich linker Tabuzonen verdrängten Funktionen des Krieges thematisieren“ – nein: wenn Kriege wieder führbar geworden zu sein scheinen, haben wir uns dennoch nicht vor diesem Phänomen und seinen psychosozialen und identitätsstiftenden Aspekten zu verneigen, sondern angesichts der Opfer und angesichts der überreichlich vorhandenen Massenvernichtungswaffen weiter an der Überwindung der Institution des Krieges zu arbeiten. Wenn aber nicht, dann wird der Ton wieder lauter werden, der durch Schmillens Doppelrenzension klingt und den ich so oft von DDR-Männern hörte: Zur Fahne gehen, das hat noch keinem geschadet.

Bücher wie die von Mentzos und Hondrich zu lesen, das hat noch keinem geschadet. Aber sie so wirklichkeitsvergessen („intellektuelle Herausforderung“ heißt es, nicht zum Beispiel Überforderung, die Krieg für die Betroffenen bedeutet) wie Achim Schmillen über solche Bücher zu reden, das schadet. Curt Strauss, Lauchhammer

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