piwik no script img

Erste Zweifel am Konfrontationskurs

Noch gestern nachmittag war Rußlands Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow nicht bereit, auf das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Jelzin zu verzichten  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

„Erhebliche Mängel an Vernunft im Lande machen es unmöglich, den Gang der weiteren Ereignisse vorauszusagen“, so leicht machte es sich Edward Radsinski in der Nesawissimaja Gaseta. Dem allabendlichen astrologischen Dienst, er hat mehr Zuschauer als der Wetterdienst im russischen Fernsehen, geht es ähnlich. Seine Prognosen werden immer vager. Eigentlich eine Schande für den gesamten Berufsstand. In der Frage, ob die Volksdeputierten Jelzin heute aus seinem Amt schmeißen, hätten sie nun wirklich Professionalität beweisen können.

Nach einem Treffen der Fraktionsvorsitzenden am Dienstag erhoben sich schon erste Zweifel, ob man die erforderliche Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten gegen Jelzin zusammenbekommen würde. 689 Stimmen bräuchten die konstitutionellen Putschisten. 600 Schäflein hatte man intern dagegen nur gezählt. Doch das sagt selbstverständlich überhaupt nichts aus. Auf den vorangegangenen Kongressen bestätigte sich immer wieder eine Tendenz: es gibt keine Fraktionen, es gibt nur Stimmungen, wie es ein russischer Journalist formulierte.

Natürlich lassen sich die Abgeordneten nach politischen Leidenschaften subsummieren. Fünf Fraktionen der äußersten Reaktion haben sich zum Block „Russische Einheit“ formiert. In ihm sitzen, neben den alten Kommunisten, die nationalkommunistischen und chauvinistischen Kräfte, verstärkt durch den Bund der Agrarier, die „roten Kulaken“, die Direktoren der Kolchosen und Sowchosen. Sie werden ohne Nachzudenken für die Amtsenthebung des Präsidenten stimmen. Doch selbst in diesem Spektrum wurden Zweifel laut. Andrej Pawlow, ein Führer der Nationalen Rettungsfront, sah die Erfolgsaussichten schwinden: „Die Chancen eines Impeachments sind minimal“.

Sein Kollege Ilja Konstantinow aus dem gleichen Kreis hegte noch ein wenig Hoffnung: „Ich erwarte, der Kongreß wird Jelzin entfernen...“, aber wie es Stil dieser Verschwörergemeinde ist, fügte er hinzu: „Aber wenn das nicht passiert, wird der Kongreß zu existieren aufhören. Wir können mit Sicherheit voraussagen, daß der Kongreß aufgelöst wird. Jelzins Zeit ist vorbei, aber er wird bis zum Ende kämpfen, sogar unter Einsatz militärischer Gewalt.“

Gerade die reaktionäre Front beschwört den Bürgerkrieg, indem sie vorgibt, ihn am meisten zu fürchten. Der Stimmung in der Bevölkerung entspricht das beileibe nicht. Die Reaktion möchte das totale Chaos herbeireden. Ansonsten fehlt es ihr an Ideen und vor allem Rückhalt bei den Wählern. Nationalisten und Kommunisten wissen genau, daß sie bei Neuwahlen nicht die Bohne einer Chance besäßen. Den vielen Vertretern der lokalen Sowjets, der legislativen Gebietskörperschaften, schwant ähnliches.

Alles hängt vom Block der Zentristen und ihren rund 350 Stimmen ab. Die „Bürgerunion“, der Sammlungsblock von sieben Einzelfraktionen, wird von Vizepräsident Alexander Ruzkoi dominiert. Verschiedentlich wurde er schon als Interimspräsident gehandelt, sollte der Kongreß Jelzin stürzen. In der Bürgerunion befinden sich eine ganze Reihe Reformbefürworter, auch unter den Direktoren der großen Staatsbetriebe. Ob sie den Showdown mit Jelzin wagen oder gar wollen, ist mehr als zweifelhaft. Nach seinem spektakulären Fernsehauftritt gegen Jelzin ist Ruzkoi den Rest der Woche einfach abgetaucht. Empfehlungen sprach die Bürgerunion nicht aus.

Aber das ist es, worauf die Mehrheit der Abgeordneten wartet. Ihre Befehlsempfängermentalität verlangt von ihnen, sich abzusichern. Die Vorsitzenden der beiden Kammern des Obersten Sowjet sollen am Mittwoch noch einen Vorstoß bei Chasbulatow unternommen haben, um ihn von einem Impeachment abzubringen. Beide gehören nicht ins Spektrum der Demokraten. Doch Chasbulatow will partout den Showdown mit dem Präsidenten, und dieser wird sich dem Duell stellen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen