In Ägypten eskaliert die Konfrontation zwischen Staatsmacht und militanten Islamisten. Die Umstände einiger Todesfälle lassen den Schluß zu, daß die Polizei Anweisung hat, bei Widerstand gezielt zu schießen. Entscheidend wird nun sein, auf welche Seite die Bevölkerung sich stellen wird. Aus Kairo Karim El-Gawhary

Mit gezieltem Todesschuß gegen militante Opposition

Ägyptens Polizei hat nach Informationen der Menschenrechtsorganisation amnesty international (ai) eine Blankovollmacht zum Töten. Angesichts der sich verschärfenden Auseinandersetzungen zwischen militanten Islamisten und der Staatsmacht wirft ai der ägyptischen Regierung in einem am Montag veröffentlichten Bericht vor, die Polizei angewiesen zu haben, bei Widerstand Menschen gezielt zu erschießen.

Mindestens 28 Bürger seien demnach in weniger als einem Monat von Sicherheitskräften in ihrem Kampf gegen islamistische Fundamentalisten getötet worden. Wie es weiter heißt, seien unter den Getöteten nicht nur Angehörige fundamentalistischer Gruppen, sondern auch unbeteiligte Passanten.

Die Attentate der letzten Wochen gegen Touristen, christliche Kopten und Polizisten in Kairo und Umgebung lassen den Schluß zu, daß die neue Strategie der militanten gamaat al-islamiya lautet, den Kleinkrieg zwischen Regierung und militanten Islamisten in die Hauptstadt zu tragen. Am Dienstag vergangener Woche verübten militante Islamisten einen Anschlag auf einen leeren Touristenbus vor dem ägyptischen Pharaonen-Museum, wobei niemand verletzt wurde. Wenige Wochen zuvor war, mitten auf dem größten Platz Kairos, eine Bombe in einem Straßencafé explodiert, in dem zu diesem Zeitpunkt eine Gruppe Ausländer saß. Im nur wenige hundert Meter vom Tatort entfernten Innenministerium läuteten daraufhin alle Alarmglocken. Lockere Sprüche, wie etwa solche, daß man „alles unter Kontrolle“ habe und 90 Prozent der Terroristen festgenommen seien, gehören seitdem der Vergangenheit an.

Nachdem vor etwa drei Wochen zwei Polizisten, die eine Kirche im südlichen Assuan bewachten, niedergeschossen worden waren, kam das Zeichen für den großangelegten Gegenschlag. Verhaftungen von täglich einem Dutzend bis zu mehreren hundert Leuten, Durchsuchungsaktionen und die Aufdeckung großer Waffenlager in allen Provinzen bis hin zu spektakulären Verfolgungsjagden per Hubschrauber gehören inzwischen zum Alltag. Dabei geht die Polizei zum Teil äußerst rigoros vor. Allein in der vorletzten Woche kamen 18 Islamisten und fünf Polizisten ums Leben. Die bei dieser Gelegenheit getöteten Islamisten wurden allesamt während des Versuchs, sie zu verhaften, erschossen. Die Umstände jener Erschießungen bestätigen die Vermutung, daß es sich in einigen Fällen um gezielte Erschießungen gehandelt hat.

Nun wartet die ägyptische Polizei auf den Gegenschlag der militanten Islamisten. Strikte Sicherheitskontrollen in den großen Hotels, in der Kairoer U-Bahn und eine strengere Bewachung von Personen, die auf der Todesliste der militanten Islamisten stehen, zeugen von der Nervosität der Regierung.

Nun haben die militanten Gruppen auch Anschläge gegen ausländische Firmen und in Ägypten lebende Ausländer angekündigt. Der Anschlag vor dem ägyptischen Museum, für den die militante gamaat al-islamiya inzwischen die Verantwortung übernahm, hat gezeigt, daß die Islamisten fähig sind, zu jeder Zeit und an jedem Ort in der ägyptischen Hauptstadt zuzuschlagen.

Richtig brenzlig wird es für die Regierung meist dann, wenn sich sporadische Aufstände der inzwischen von Preissteigerungen, IWF- Strukturprogrammen, Arbeitslosigkeit und Bildungsmisere entnervten Bevölkerung mit islamistischen Inhalten füllen. Am vorletzten Wochenende war mit einer Demonstration im Norden Kairos die nächste Eskalationsstufe erreicht. Der Anlaß des Ganzen: das Erziehungsministerium hatte beschlossen, die Lehrerin einer Mädchenschule nach Oberägypten zu versetzen, weil sie Kassetten mit anti- christlicher Propaganda vor ihrer zum Teil mit christlichen Mädchen besetzten Klasse abgespielt hatte. Die Demonstranten forderten die Rücknahme des Beschlusses und stürmten die lokale Telefonzentrale, das Elektrizitätswerk und die Polizeistation. Darüber hinaus zündeten sie einen Teil der dortigen evangelischen Kirche an. Erst nach einem massiven Polizeieinsatz und dem Versprechen, die Lehrerin nicht zu versetzen, gelang es, die Lage unter Kontrolle zu bringen.

Die entscheidende Frage ist, ob solche Fälle von „islamistisch- ideologisierten“ Aufständen Einzelfälle bleiben werden, auf welche Seite sich die Mehrheit der Bevölkerung stellen wird und wie lange die Anschläge der Islamisten isolierte Aktionen bleiben. Mit großangelegten Propaganda-Aktionen gegen „Terrorismus und religiösen Extremismus“ versucht die Regierung in den von ihr kontrollierten Medien und mit Plakataktionen in der Hauptstadt den Propagandakrieg zu gewinnen.

Die militanten Islamisten nutzten derweil ihrerseits einen vor dem obersten Militärgericht begonnenen Schauprozeß gegen 49 Mitglieder der gamaat zu einem Showdown: die Angeklagten werden vom Militärankläger unter anderem beschuldigt, in acht Fällen für Angriffe auf Touristenbusse und Kreuzfahrtschiffe verantwortlich zu sein. Die Anschläge auf Touristen seien eine Reaktion auf die wiederholten Verhaftungen, Folter und „physische Vernichtung“ von Mitgliedern der gamaat, ließ ein Sprecher der Angeklagten vor ausländischen Journalisten verlauten und kündigte deren Fortsetzung an, falls die Regierung die Verhafteten nicht freilasse und einen Dialog mit der gamaat beginne.

Weitaus fatalere Folgen könnte allerdings eine andere, neue Strategie der Regierung zeitigen. Bisher hatte sie versucht, den militanten Teil der Islamisten zu kriminalisieren und den moderaten Teil vorsichtig in das politische System einzubinden. Damit hatte sie den moderaten Flügel, wie etwa die seit den 20er Jahren bestehende Muslimbruderschaft, zu einer Art „Marsch durch die Institutionen“ veranlaßt. In Panik geraten, versucht die Regierung jetzt, die von den Islamisten dominierten gesellschaftlichen Institutionen wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Prominentestes Beispiel ist ein vor wenigen Wochen erlassenes Gesetz mit dem bezeichnenden Namen „Gesetz zur Sicherung der Demokratie in den Berufsverbänden“. Mit der Auferlegung neuer Statuten will die Regierung diese Verbände dem Einfluß der aktiven Minderheit der Islamisten entreißen. Durch geschickte Schachzüge hatten die Islamisten in den letzten Jahren die wichtigsten dieser Verbände, wie etwa den Anwalts-, Ärzte- oder Ingenieursverband, auf demokratische Weise unter ihre Kontrolle gebracht. Die Verbände mit ihren drei Millionen Mitgliedern gehören zu den wenigen Institutionen in Ägypten, in denen die Opposition aktiv Politik betreiben kann. Das Ganze ist ein Spiel mit dem Feuer, denn der moderate Teil der Islamisten wird auf diese Weise geradezu gezwungen, sich nach anderen Aktionsmöglichkeiten umzusehen und sich zu radikalisieren.