Jazzszenen in Niedersachsen

■ Beckerhoff und Gismonti: Jazzfest Sulingen war ein voller Erfolg

Die Musiker konnten aufatmen: der Tourneemanager hatte Egberto Gismonti und seinen brasilianischen Bandmitgliedern erzählt, an diesem Abend müßten sie auf dem Acker in einem Zelt spielen. Wer konnte auch schon wissen, auf was man sich bei solch einem obskuren Unternehmen wie dem ersten Sulinger Jazzfest gefaßt machen mußte? Aber das Stadttheater im Gymnasium entpuppte sich als schmucker, brandneuer Veranstaltungsort mit bequemen Sitzen, guter Akustik und einem wohltemperierten Steinway — Flügel. Erstaunlich viel Publikum war gekommen, es herrschte eine angenehm lockere Stimmung und die Organisation lief reibungslos. Wenn Gismonti schließlich doch einige Schwierigkeiten mit dem Sound hatte, ging das wohl eher auf die Kappen seiner eigenen Roadies.

Mit drei ganz unterschiedlichen Auftritten an einem langen Abend war das Minifestival auch gut ausbalanciert: Es gab eine klassische und hochklassige Quinettformation; einige sportliche Höchstleistungen am Feder-, Bantam-und Leichtsaxophon; und als Höhepunkt einen freien Flug über die Grenzen zwischen Jazz, neuer Kammermusik, brasilianischen Klangwelten und Ironie.

Uli Beckerhoff und der

Beginn einer neuen Tradition

Die Uli Beckerhoff Group begann den Abend (und wenn es nach dem Kulturverein des Ortes und dem rührigen Organisator Thomas Proff geht, gleich eine neue Tradition von Jazzfesten) mit einem langen Set mit ausgesucht delikatem Ensemblespiel. Die Bandbreite des Materials reichte vom Miles Davis — Klassiker „Milesstones“ über romantische bis zu Jazzrockstücken mit elektronisch verdoppelten Trompetensounds und Synthesizerdonnern. Eine wunderbar aufeinander eingespielte Gruppe war zu hören, bei dem sich jedes Bandmitglied gerade in den festen Stukturen der im hohen Maße durchkomponierten Stücke sehr gut mit prägnanten

hier bitte

den Trompeter

Uli Beckerhoff, Bremer Großmeister

Soli präsentieren konnte.

Von ganz anderem Kaliber war der folgende Auftritt des Saxophonisten Klaus Kreuzeder, der für sein Duo mit „Sax As Sax Can“ einen Titel gewählt hat, der nicht umsonst eher sportliche Assoziatioen weckt. An feinsinnigem Zusammenspiel war er überhaupt nicht interessiert: Gitarrist Henry Sincigno spielte statt dessen eine fast sklavisch unterwürfige Begleitung zu Kreuzeders eher artistisch als musikalisch interessanten Saxophonexzessen. Der im Rollstuhl sitzende Kreuzeder reckte nach jedem Stück mit einer triumpfierenden Machogeste sein Instrument in die Höhe; zeigte gleich dreimal, daß er mit Zirkulationsatmung einen Ton ganz, ganz lange halten kann, und bewies mit einer Fahrstuhlbereiselungsversion des Standardts „Take Five“ endgültig, wie weit die Grenzen des Jazz und des Musikgeschmacks gehen können.

Egberto Gismonti im freien Flug

über alle musikalischen Grenzen

Dramaturgisch war sein Auftritt aber genau richtig plaziert, den der extreme Gegensatz von Egberto Gismontis Musik machte um 23 Uhr alle Zuhörer wieder ganz schnell hellwach. Das Quartett des Gitarristen mit einem zusätzlichen Gitarristen/Synteziserspieler, Bassisten und Cellisten spielte

eine traumhaft heitere, hochkomplizierte und doch ganz natürlich swingende Musik, die allen Kategorisierungen lachend die Zunge herauszustreckten schien. Merkwürdige Widersprüche, Paarungen und Kontraste ließen die Zuhörer bei jedem Takt auf die nächste Finte, noch einen ironischen Bruch oder eine weitere virtuose Glanzleistung warten. Wenn Gismonti von der Gitarre zum Piano wechselte, legte auch Nando Carneiro seine Gitarre beseitete und spielte am Syntesizer weiter — wie ein akustischer Schatten folgte er ständig Gismontis Klängen mit oft kaum hörbaren Ausschmückungen, Signalen oder Schattierungen. Die beiden anderen Streicher bildeten gemeinsam den Gegenpol mit vielen unisono gespielten Passagen. Besonders der Cellist Jaques Morelbaum gab mit seinem streng klassischen Ton und Habitus der Musik Gismontis eine ganz eigenartige Note. Die Quadratur des Sambas, Karnevalstänze fürs Gehirn, Kammerweltmusik: mit solchen Paradoxien kann man diesen Auftritt auf dem platten Land vielleicht noch am besten beschreiben.

Publikum und Veranstalter konnten in jeder Hinsicht mit diesem ersten Sulinger Jazzfest sehr zufrieden sein. Fürs nächste Jahr ist hoffnungsfroh schon John Abercrombie verpflichtet worden.

Willy Taub