Ein Schiff atmet Geschichte

■ Gesichter der Großstadt; Kapitän Karlheinz Grasnick (63) hat sich seinen Dampfer "Arcona" zurückgekauft / Von falschen Nazis und "Republikflüchtigen"

Karlheinz Grasnick ist ein Seebär. Wenn er erzählt, dann spult er das Seemannsgarn ab und spult und spult – ohne daß der Faden kürzer zu werden scheint. Ob es nun die Schwarzweißfotos an den Wänden des Ruderhauses sind oder der Motor im Schiffsbauch ist: Zu allen Dingen auf seinem Kahn fällt dem Ostberliner eine Geschichte ein. Mit einem Latschen klopft er auf den rot gestrichenen Stahlboden und mit seiner Hand gegen schwere Eisenwände – ihnen ist nur ein dumpfer Klang zu entlocken. „Alles atmet Geschichte“, sagt er.

63 Jahre ist der Kapitän alt, doch davon läßt sich der Mann nicht aufhalten. Vergangene Woche hat er von der Stern- und Kreisschiffahrt seine „Arcona“, das knapp 90 Jahre alte Fahrgastschiff, zurückgekauft, das vor einem halben Jahrhundert schon seinem Vater gehörte. Damals wurde der Kahn noch mit Kohlenkessel in Fahrt gebracht und fuhr auch auf den Gewässern des realen Sozialismus unter privater Flagge – bis 1974. Dann mußte Grasnick den Dampfer an die staatlich betriebene Weiße Flotte verkaufen, weil er die Kredite für Umbau auf Motorantrieb nicht abzahlen konnte. „Sein“ Schiff steuerte Grasnick aber weiter als Angestellter durch die Kanäle und Flüsse der Hauptstadt der DDR. „Sonst wäre es schon längst abgewrackt“, glaubt der frischgebackene Reeder.

Die „Arcona“ gibt es zweimal. Einmal als Original und einmal als Modell, das an Deck unter einem Glaskasten steht. „Letztes personenbeförderndes Dampfschiff auf Spree und Havel“ ist auf einem Schild zu lesen. Der Glaskasten und mit Plexiglas geschützte Schwarweißfotos sind übriggebliebene Zeugnisse der Pläne des damaligen Ostberliner Magistrats und der Weißen Flotte. Die „Arcona“ sollte ins Märkische Museum. Doch der Mann mit Schiffermütze auf dem Kopf wehrte sich erfolgreich: Noch heute ist auf Grund der damaligen Museumspläne vieles unverändert auf dem Dampfer. Stolz öffnet Grasnick eines der Fenster, indem er es nach unten schiebt. „Hier kann man entgegenkommende Schiffe noch grüßen“, meint er und spuckt zum Fenster hinaus.

Schiffe hatten für einen Staat, dessen Gesetzbuch „Republikflüchtlinge“ kannte, etwas Gefährliches. Doch Grasnick hatte deshalb nur ein einziges Mal Ärger. Sein Bootsjunge flüchtete zusammen mit Freunden auf einem Schiff der Weißen Flotte in den Westen. Danach mußte der Chef des Bootsjungen sich gegenüber der Staatssicherheit verantworten – er habe seinen Jungen nicht „richtig“ erzogen. Passiert ist Grasnick dann zwar nichts, wie alle anderen Schiffsführer mußte er aber jeden Abend das gußeiserne Steuerrad abschrauben und abgeben – erst morgens bekam er das Ruder wieder.

Grasnick hatte nicht nur nautische Kenntnisse über sozialistische Flüsse, sondern wußte sich auch auf politischen Kanälen durchzuschlängeln. Ende der sechziger Jahre hatte er „Goldfassaden“ – Offiziere der Nationalen Volksarmee (NVA) – an Bord. „Die hatten schnell einen im Tee“, erinnert er sich. Die Arcona lag im Sperrbezirk, und es habe nicht lange gedauert, da sei das Grenzboot gekommen. Ein Grenzer sei an Bord gegangen und habe vor den hohen Militärs sofort Haltung angenommen, freut sich Grasnick noch heute. Der angeheiterte Corvettenkapitän habe nur gesagt, daß die Arcona so lange im Sperrbezirk liegen bleibe, wie es ihm gefalle. Noch am selben Abend war klar, woher Grasnick einen Motor bekommt. Die 150-PS-Maschine liebt der 63jährige noch heute. Das Herzstück seines Schiffs ist immer geputzt, und wer in den Motorraum hinunterklettert, dem wird der knapp 40jährige Apparat vorgeführt. Mit Preßluft wird das Gerät angeworfen, und dann stampfen die Kolben. Knapp vier Tonnen wiegt der Antrieb, den einst der „VEB Schwermaschinenbau Karl Liebknecht“ für ein NVA- Vorpostenboot auf der Ostsee gebaut hatte. Der Umbau der Arcona von Dampf auf Diesel kostete Grasnick damals 150.000 Mark.

Grasnick hatte aber nicht nur NVA-Offiziere an Bord, sondern – zu DDR-Zeiten – auch „Nazis“. Die DEFA drehten einen „Kommunistenfilm“, in dem ein vor der Geheimen Staatspolizei verfolgter Mann von einer Spreebrücke auf Grasnicks Boot sprang. Auf seinem Schiff feierte gerade eine Horde BDM-Mädels. Der Mann konnte erfolgreich flüchten, doch dafür seien so viele Zufälle nötig gewesen, berichtet Grasnick, daß das Drehbuch eher aus den Wünschen realsozialistischer Filmemacher zusammengesetzt schien, als mit der Wirklichkeit zu tun hatte.

In diesem Jahr gehen erstmals die Leinen am 1. Mai los. Ohne falsche Nazis, DDR-Militärs oder „Republikflüchtlige“. Wenn Grasnick morgens um 9 Uhr in Grünau ablegen wird, hilft ihm statt des früheren Mitropa-Personals oder der Mitarbeiter der Stern- und Kreisschiffahrt sein 30jähriger Sohn Holger. Zu Anfang hätten Verwandte und Freunde beide von der Selbständigkeit abhalten wollen, sagt Grasnick. Doch jetzt begegneten sie ihnen mit Anerkennung. Auch seine Mutter habe inzwischen alle Zweifel an dem Projekt des 63jährigen „über Bord geworfen“. Sie freue sich auf die Feier ihres neunzigsten Geburtstags im April – an Deck des Schiffes, auf dem ihr Mann noch Braunkohle in die Kessel geschaufelt hatte. Dirk Wildt

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