Ein Bekenntnis zur Tradition der Stadt

Eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau über den eigenwilligen italienischen Architekten Aldo Rossi  ■ Von Martin Kieren

1988 gewann der italienische Architekt Aldo Rossi den Wettbewerb für das Deutsche Historische Museum in Berlin. Wie nicht wenige Entwürfe zuvor und auch danach, bleibt dieses Projekt wohl ein Papiertiger, ein Fall für das endlose Buch „Architektur für Berlin, die nicht gebaut wurde“. Während der Internationalen Bauausstellung konnte Rossi zwei Häuser in Berlin realisieren: 1985 das Stadthaus an der Rauchstraße und 1988 die Mietshausbebauung an der Ecke Koch-/Wilhelmstraße. Nach zwei großen Ausstellungen 1991 im Centre Pompidou in Paris und 1992 in Berlages Bärse in Amsterdam, wo jeweils Ausschnitte aus seinem (Architektur + Design) Werk gezeigt wurden, präsentiert die Berlinische Galerie nun erstmals das komplette architektonische Werk dieses wichtigen, umstrittenen und doch außerordentlich einflußreichen europäischen Architekten.

Im Jahr 1966 erschienen zwei Bücher über Architektur, die je auf unterschiedliche Weise mit der Stadt des 20. Jahrhunderts abrechneten. In den USA wurde Robert Venturis „Complexity and Contradiction in Architecture“ verlegt, ein Buch, das sich mit der Vielfalt der urbanen Erscheinungen und den Überlagerungen von Bildern auseinandersetzte und diese Vielfalt als Voraussetzung für die Wiedergewinnung des Reichtums in der Baukunst propagierte. Der Italiener Aldo Rossi dagegen versuchte mit seinem Buch „L'Architettura della città“, auf das ureigenste Element der europäischen Stadt, nämlich das „Haus als Typ“, aufmerksam zu machen. Diese zwei Bücher können als epochemachend gelten, ihr Einfluß auf die Architektur ist enorm – zumal vor dem Hintergrund des restaurativen und monetären Bauschaffens ihrer Zeit.

In den sechziger Jahren schlug man immer noch unbedarft und vor allem ungestraft die bösesten Wunden in die von Krieg und Verkehr geschundenen Stadt-Körper; es tobte ein kalter, sinn- und formentleerter Funktionalismus über die Reißbretter und die Baustellen der Architekten. Wenn sie ein Loch in einer Wand vorsahen, meinten sie bereits, eine Tür oder ein Fenster entworfen zu haben, und wenn sie eine Betonplatte auf eine Kiste legten, sollte das schon eine Fassade oder ein Dach für ein Haus sein. Das waren Spätfolgen der Funktionalismusdebatte der zwanziger Jahre, die man, vom Krieg unterbrochen, in den fünfziger und sechziger Jahren, zum Teil aus Phantasielosigkeit, zum Teil aus schlechtem Gewissen gegenüber den einstigen Lehrern, nun wieder aufnahm. Zu dieser Zeit wirkten die Bücher von Rossi und Venturi geradezu blasphemisch, ja, die beiden Architekten galten als Verräter an der heiligen Idee, die sich zudem – gemäß der Propaganda ihrer lautesten Vertreter – als links und sozial darstellte.

Einfache Elemente

Rossi und Venturi dagegen sprachen wieder von Architektur. Sie legten Wert auf Unterschiede – und eben auf Komplexität, Bauen, so schien es jedenfalls auch beim Betrachten ihrer Entwürfe, war beiden eine Lust, keine Last, keine Zweckerfüllung.

Es war vor allem Aldo Rossi, der den Formenkanon der Baukunst wieder in Erinnerung rief, der vor dem teilweise doktrinären Funktionalistengeklingel der Zwanziger für Jahrhunderte Bestand hatte und dessen sich die Baumeister mit Erfolg bedient hatten. Er scheute sich nicht, das „Haus als Typ“ als kleinste städtebauliche Einheit in Erinnerung zu rufen, dessen Entstehung und Einbindung in den städtischen Zusammenhang zu analysieren, um wieder zu einfachen Grundformen wie Quadrat, Dreieck, Kreis, zu Kubus, Kegel und Zylinder zu gelangen. Und er scheute sich nicht, diese ursprüngliche Wahrheit des Bauens und Gestaltens erneut zu verkünden.

Rossi und Berlin

Die Ausstellung in der Berlinischen Galerie im Martin-Gropius-Bau dokumentiert das architektonische Werk Rossis umfassend und reich – ein Reichtum, der dem Ort angemessen ist und das Lustwandeln auf der oberen Galerie zum Genuß steigert. Die Projekte reichen von seinem ersten spektakulären Auftrag, dem Baublock Gallaratese in Mailand (1969-73) bis zu den erst vor kurzem entstandenen Entwürfen für Berlin.

Mit dieser Stadt verbindet Rossi eine besondere Beziehung – sowohl im Hinblick auf seine frühen theoretischen Untersuchungen zur Typoloogie der Stadt als auch in bezug auf sein architektonisches Werk. In den sechziger Jahren machte er sich als Gast der Berliner Bauakademie mit der speziellen Baugeschichte des Berliner Klassizismus vertraut, zeichnet die in die Straßen und Blöcke eingeschriebenen Spuren und Typologien nach und ist seither – wer zöge nicht den Hut? – ein erklärter Verehrer Schinkels.

Es ist vor allem der Block und die an einem gleichmäßigen Straßenraster gelegene Straßenrand- Bebauung, die ihn seither fasziniert. Schon früh wies er darauf hin, daß es gar nicht darauf ankomme, neue städtebauliche Figuren zu entwerfen, sondern darauf, sich auf die eigenen historischen Bestände zu besinnen und diese zu transformieren. Rossi ist daran gelegen, die in diesem Block schlummernden Prinzipien und Möglichkeiten zu variieren und auszureizen, das Haus in der Reihe zu entwickeln, mit den genannten Grundformen des Hauses zuletzt zu spielen. (Als vermeintliche Neuerfindung heißt Rossis systematisches Vorgehen in unseren Tagen: „Kritische Rekonstruktion“ – nur leider mit problematischen Vorzeichen.)

Das Spiel – die Stadt

Aber das Spielen selbst ist Rossi eine ernste Angelegenheit. Viele seiner Kritiker sahen in seinen Entwürfen und Projekten ausschließlich die Verwendung von Teilen eines Baukastens, den Rückgriff auf einen längst bekannten Formenkanon, den dieser nur virtuos anzuwenden verstehe. Wenn diese Überlegung aber richtig sein will, muß sie Rossis System ernst nehmen und betonen, daß es ihm immer um die typischen Elemente geht, aus denen sich noch jede traditionelle Stadt zusammensetzt: Straßen, an denen Einzelhäuser stehen, Plätze, die von Einzelhäusern gebildet werden, und Proportionen und Prinzipien, denen das jeweilige Haus sein spezielles Aussehen verdankt.

Aldo Rossi, der vor seinem eigentlichen Bauschaffen eben intensiv theoretisch mit dem Gebilde Stadt umging, war der erste unter den „Nachkriegsmodernen“, der sich systematisch mit den Traditionen der form- und raumbildenden Kräfte auseinandersetzte und diese in seinen Arbeiten transformierte: „In meinen Wohnhausentwürfen beziehe ich mich auf die grundlegenden Typen des Wohnens, die sich in einem langen historischen Prozeß der Architektur der Stadt gebildet haben. So ist aufgrund ihrer Analogie jeder Korridor eine Straße, jeder Hof ein Platz, und jedes neue Gebäude wiederholt und reproduziert die vorhandenen Orte der Stadt.“

Mit dieser Haltung widerspricht Rossi den vielen leeren und hilflosen Anstrengungen, einen der neuen Zeit entsprechenden Ausdruck auch unbedingt in der Architektur widerspiegeln zu wollen. Er geht davon aus, daß die charakter- und raumbildenden Muster längst vorhanden und auch noch gültig sind. Innerhalb dieses Rahmens wird es ihm möglich, die Mauer als Fassade, den Sockel, das Dach, die Zonierung, die Straße, den Baublock und zuletzt eben auch die Stadt wieder als ein tradiertes und vor allem bewährtes Bezugssystem zu erkennen. Alle Eingriffe müssen darin eingebunden werden. Es gilt, den Charakter der vorhandenen Orte nicht zu dechiffrieren und zusätzlich noch spielerisch zu bleiben – er ist schließlich Architekt, Baukünstler und somit mit Phantasie und Lust ausgestattet.

Künstler, Architekt, Zeichner

Dieses Spielen ist auf angenehme Weise fast allen Projekten Rossis anzusehen. Der Kurator für Architektur der Berlinischen Galerie, Helmut Geistert, hat gut daran getan, jedes Projekt mit den poetischen und eigenwilligen Skizzen und Zeichnungen des Architekten zu belegen – nicht etwa ausschließlich mit Fotografien und technischen Zeichnungen. Erst über diese Skizzen erschließt sich die Lust am Bauen, spürt man förmlich den Spaß, den dieser Architekt an seinem Beruf haben muß. Wohl nicht umsonst wählt Rossi für seine Skizzen seit jeher goldgelbes Transparentpapier, eine Farbe, die in der Geschichte der Farbsymbolik mit Sonnenlicht, Reichtum und Heiterkeit assoziiert wird. In Verbindung mit einem mal pastös, mal hauchfein aufgetragenen mediterranen Blau vermitteln diese Zeichnungen Zartheit und Poesie – und die ehrliche Suche nach einem architektonischen Bild. Auf diesen Zeichungen entfaltet sich sofort eine visionär- stimmungsvolle Klarheit und eine Prägnanz in der Vorstellung des baulich-räumlichen und tektonischen Gefüges, so daß man überrascht ist, wie sehr der Geist der gebauten Ergebnisse mit dem übereinstimmt, was auf den ersten Skizzen zu einem Projekt vermittelt wird.

Rossi ist dabei unübersehbar stark beeinflußt von der Bilderkraft der Pittura metafisica (de Chirico) und den rationalistischen architekturtheoretischen Debatten der dreißiger Jahre in Italien. Daher sind seine Projekte zwar alle ein wenig streng – aber gerade diese Strenge verleiht ihnen ihre formale Kraft, die auch in den zahlreichen Modellen noch einmal deutlich wird: Es sind an sich schon kleine Kunstwerke, sie wirken wie Broschen – wie die letzte mögliche Form eines räumlichen und tektonischen Gedankens. Verweist man aber auf seine Herkunft, auf seine Anlehnungen (beispielsweise den rationalismo), so wird auch deutlich, daß Rossi für eine ganze Generation natürlich selbst wieder stilprägend und von ungeheurem Einfluß bis in unsere Zeit ist: Kleihues, Ungers, Kollhoff und Sawade – um in Berlin wirkende Architekten zu nennen – sind ohne Rossis neuinterpretierten Rationalismus nicht denkbar.

Geschickterweise wurde für die Berliner Projekte – das Deutsche Historische Museum, die IBA- Bauten und neuere Entwürfe – der Raum gewählt, aus dessen Fenster man Rossis Haus an der Kochstraße im Maßstab 1:1 als größtes Exponat der Ausstellung sehen kann. Hier endlich beweist sich vor Ort die Lust und der theoretische Ansatz des Architekten: das sinnliche Spielen mit dem Block-Raster und der Ecke, die rhythmische Gliederung der Haus-Abschnitte und die heiter-verspielte Bekrönung der Baufigur mit dreieckigen Giebeldächern über den Treppenhäusern. Das Ganze in rotem Backstein mit horizontal eingelegten gelben Ziegelreihen und mit grünen Fenstern und Haustüren. Berliner Backstein – Tradition, transformiert in unsere Zeit. Das muß einem – ästhetisch, tektonisch, farblich oder als Idee/Konzeption – gar nicht alles gefallen, aber die Mischung aus poetischer Schaffenskraft, theoretischer Durchdringung des Problems mit den mediterranen Färbungen von Melancholie und Heiterkeit stünde der Stadt Berlin auch an anderen tristen Orten gar nicht so schlecht.

Aldo Rossi – Architekt; Ausstellung in der Berlinischen Galerie im Martin-Gropius-Bau, bis 2. Mai, Katalog i. d. Ausstellung: 42 DM.