Mit Kreuzworträtseln die Wahl entscheiden

■ Im Süden von Paris, wo KP-Chef Marchais gewann, ist der Klassenkampf noch lebendig

Villejuif (taz) – „In allen Wahlbüros sitzen ein paar Frauen und lösen Kreuzworträtsel, da ist doch etwas faul.“ Der konservative Kandidat ist seit frühmorgens auf den Beinen. Unermüdlich klappert er seinen Wahlkreis im Süden von Paris ab und schaut den Wahlhelfern auf die Finger. Denn Daniel Richard will die „Berliner Mauer“ in Val de Marne, einer Hochburg der Kommunistischen Partei (PC), zu Fall bringen. „Sie haben die historische Chance, Ihre Partei von der stalinistischen Vorherrschaft zu befreien“, warb der Mann, der PC-Parteichef Georges Marchais schlagen will, auf seinen Flugblättern. Im ersten Wahlgang lag er mit 34 Stimmen vorn. Bei einem derart knappen Resultat können die Kreuzworträtsel entscheidend sein.

Tatsächlich tragen die beiden Frauen am Seitentisch des Wahllokals selten Buchstaben in ihre Heftchen ein, statt dessen notieren sie immer wieder Zahlen. „Die schreiben die Wahlkarten-Nummern der Leute auf, die gewählt haben“, erklärt Richard seinen Begleitern. „Und nachmittags klappert die Partei all diejenigen ab, die noch nicht da waren, und macht ihnen Druck.“ Und wirklich: In einer Hochhaussiedlung sieht man junge Leute mit Listen in der Hand von Treppenaufgang zu Treppenaufgang gehen. Ein paar Straßen weiter schleppt ein Paar eine uralte Frau in Nachthemd und Pantoffeln zur Wahl.

Zurück im Wagen mit den getönten Scheiben, telefoniert der Marchais-Herausforderer mit seinen Helfern, die sich bemühen, alle 60 Wahllokale im Blick zu behalten. Das ist eine schwierige Aufgabe, denn die neogaullistische RPR hat hier, in diesen letzten Sprenkeln des ehemals roten Gürtels von Paris, nur wenige engagierte Mitglieder. Die Kommunisten hingegen verfügen neben dem gut geölten Parteiapparat auch über die Angestellten in den Rathäusern.

Die Konservativen suchen nach Unregelmäßigkeiten

Das nächste Büro liegt zwischen Robespierre- und Marat-Straße. Auch hier sitzen zwei Frauen mit Groschenheften, Kaffee und Kuchen und sorgen für Gemütlichkeit. Der rechte Eindringling stört die Stimmung. Als er die Wahlhelfer jovial per Handschlag begrüßen will, weigert sich eine alte Frau beharrlich. „Die arbeitet gewiß im Rathaus“, meint Richard beim Hinausgehen. „Jetzt hat sie Angst, daß sie ihren Job verlieren könnte. Denn die Kommunisten haben natürlich viel zuviel Personal angestellt, und alle kommen aus ihren Reihen.“ Vom Autotelefon aus wählt er den Gerichtsvollzieher an, der im Auftrag der Partei jede Unregelmäßigkeit festhält – wenn der Mann fündig wird und die Wahl knapp ausgeht, wird Richard die Annullierung fordern. Vor fünf Jahren sollen die Marchais-AnhängerInnen hier 3.000 Stimmen erschwindelt haben.

Kaum ist er abgefahren, da bricht es aus der Frau heraus. „Ich habe Angst vor den Rechten. Unter ihnen werden wir unsere Sozialwohnungen verlieren. Die werden uns zu Hungerleidern machen. Was stellen die mit mir an, wenn ich meine Miete nicht zahlen kann?“ Sie ist Witwe und verdient ihren Lebensunterhalt mit Putzen. Der Sohn hat das Abitur geschafft – eine für sie unvorstellbare Hürde – und findet dennoch keine Arbeit.

Marcelle Labruyere bewacht eine Wahlurne in der Karl-Marx- Siedlung. Sie ist eine fröhliche Frau. Mit ihrem orangeroten Blazer und den roten Schuhen strahlt sie Kampf- und Siegeslust aus. Den Kommunisten hält sie seit einem halben Jahrhundert die Treue, im Krieg hatte sie auf deren Seite Widerstand geleistet. In Villejuif wird Marcelle von allen gegrüßt, „das hat den Richard gewundert, als er neulich erstmals zum Wahlkampf hier herkam“.

Die kommunistische Stadtverwaltung hat ihr geholfen, das Leben zu meistern: „Ich habe fünf Kinder, konnte trotzdem arbeiten, weil es hier genügend Krippen und Schulen gibt, und im Sommer hat die Partei Ferienlager organisiert. Wir Arbeiter haben mit Marchais alles, was wir brauchen. Richard wird nichts für uns tun“ – das ist für sie der entscheidende Unterschied zwischen den Kandidaten. Von ihren Kindern ist nur eines in der KP, doch alle fünf und ein paar Enkel sind an diesem Sonntag für Marchais zur Wahl gegangen. „Richard, das ist ein Rechtsanwalt, ein bourgeois, der wohnt im feinen siebten Arrondissement von Paris und weiß überhaupt nichts von uns“, sagt Marcelle.

Der Sozialist Michel Rocard hatte in seiner Rede zur Erneuerung der Linken erklärt, die Idee vom Klassenkampf sei überholt – für Villejuif gilt diese Analyse nicht. Der soziale Graben zwischen dem bürgerlichen Kandidaten und den BewohnerInnen der Siedlungen sticht ins Auge: Ob Richard es überhaupt merkt, daß er mit seiner grauen Flanellhose und dem dunkelblauen Zweireiher die Gefühle der kleinen Leute verletzt? Daß er und seine Gruppe ausstrahlen, was sie nur im Auto sagen: nämlich daß sie die Arbeiterstadt ganz furchtbar finden?

„Wir lieben Villejuif“, sagt Marcelle energisch, „und nach 60jährigem Warten haben wir jetzt sogar den Metroanschluß nach Paris bekommen!“ Richard habe sich seine Begleiter wohl im Modeheft ausgesucht. Dabei kommt es ihr nicht entfernt in den Sinn, daß der Mann, der seinen Goldknopf-Blazer unter der Lederjacke trägt, ein Leibwächter ist, und dazu ein ganz besonderer: „Den und den Fahrer hat mir Gaullistenchef Chirac ausgeliehen, es sind seine persönlichen Schutzmänner“, sagt Richard voller Stolz. Doch das verrät er nur seinen Sympathisanten.

Der starke Mann kommt an diesem Abend nicht zum Einsatz. Das Ergebnis fällt so klar aus, daß die Kommunisten von Villejuif nur noch ans Feiern denken: Der alte Apparatschik kann 3.500 Stimmen mehr verbuchen als sein Gegner – einen solchen Vorsprung können die Kreuzworträtsel allein wohl nicht erklären. Bettina Kaps