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Von der Kunst zu trauern

Eintracht Frankfurt verliert das Pokalhalbfinale mit 0:3 gegen Bayer Leverkusen und Dragoslav Stepanovic nimmt seinen Zigarillo  ■ Aus Frankfurt Matthias Kittmann

Natürlich werden Sepp Herbergers Weisheiten auch in Frankfurt akzeptiert. Doch wenn die Situation knifflig wird, greift man in der Mainmetropole schon mal eine Etage höher. Gefragtester Philosoph vor diesem Pokalhalbfinale war daher Jürgen Habermas und seine Thesen zur „Neuen Unübersichtlichkeit“. Trainer Stepanovic hatte bekanntlich vorzeitig seinen Wechsel zu Leverkusen in der nächsten Saison verkündet und die Eintracht zu allem Überfluß die letzten drei Spiele verloren. Nun mußte die simpelste Frage des Fußballs (Wer spielt gegen wen?) völlig neu definiert werden. Sicher, oberflächlich betrachtet spielte Frankfurt gegen Leverkusen. Tatsächlich aber machten Beobachter ganz andere Kontrahenten aus. Würde etwa die Eintracht-Mannschaft gegen ihren Trainer spielen, weil sie das Theater um ihn satt hatte? Oder würde „Stepi“ eine Taktik gegen die Eintracht-Profis wählen, um sicher zu stellen, daß sein zukünftiger Verein in einem internationalen Wettbewerb vertreten sein wird? Gegen wen und für wen kickten die Leverkusener? Trainer Reinhard Saftig stand vor einem schwierigen Problem. Bei einer Niederlage hätte sein ohnehin wackliger Stuhl noch ein bißchen mehr geschaukelt. Mit einem Sieg erst recht. Denn der dann zu erwartende Rücktritt Stepanovics und seine freie Verfügbarkeit hätte Saftig wiederum zum Trainer auf Abruf gemacht. Die typische Dualität des Fußballs war also aufgehoben und durch komplizierte Beziehungssysteme ersetzt worden.

Den im philosophischen Diskurs unerfahrenen Leverkusenern wäre diese Ausgangslage beinahe zum Verhängnis geworden. Vor dem Spiel hatte Trainer Saftig gewarnt: „Wir dürfen nicht glauben, Frankfurt schlägt sich selbst.“ Welch ein taktischer Fehler! Fast hätte Saftig mit dieser Warnung das Spiel verloren. Daß er es dann doch nicht tat, hängt nämlich mit genau dieser Selbstschlagfähigkeit der Frankfurter zusammen. Zur Halbzeit hatte Leverkusen keine eigene Chance erarbeitet und führte dennoch seit der 6.Minute mit 1:0. Eintracht-Libero Binz verlor ohne größere Not im Mittelfeld den Ball an Kirsten und der ermöglichte mit einem Paß Thom den Torschuß. Erfahrene Eintracht- Zuschauer wußten jetzt schon: Das war's. Denn im Produzieren von dramatischen Niederlagen lassen sich die Frankfurter Schöngeister von niemandem übertreffen.

Gleichzeitig machte das Frankfurter Publikum deutlich, daß Margarethe Mitscherlichs These von der „Unfähigkeit zu trauern“ neu überdacht werden muß. Ein tragischer Platzverweis für Uwe Bindewald, ein nicht gegebenes Tor von Edgar Schmitt und zwei weitere glückliche Treffer für Leverkusen – jeder im Stadion spürte: hier geht eine große Mannschaft unter. Nach Spielschluß keine Pfiffe, keine Haßtiraden gegen Stepanovic; einfach nur leise Melancholie. Am Spielfeldrand gab Stepanovic gerade seine Demission bekannt, doch niemand wollte ihm etwas vorwerfen. Im Gegenteil: „Jetzt hat ihn auch noch das Glück verlassen“, erklärte ein deprimierter Vize-Präsident Bernd Hölzenbein und verpflichtete Horst Heese als Interimslösung. Derweil stellten in den Straßen- und S-Bahnen die Zuschauer ihre Fähigkeit zu leiden und zu trauern unter Beweis. Einer brach das Schweigen und meinte: „Die Leverkusener werden in ihrer Kabine sitzen und gar nicht wissen, warum sie gewonnen haben.“ Zustimmendes Nicken. Ein anderer fügte hinzu: „Schon tragisch, daß mit Bindewald ausgerechnet einer der Besten vom Platz gestellt wurde.“ Um ja keine ungerechte Kritik am Schiedsrichter aufkommen zu lassen, warf ein Dritter ein: „Aber bei Notbremse muß er Rot geben.“ Als es jemand wagte, das nicht gegebene Ausgleichstor in der 65. Minute als korrekt zu reklamieren, weil der Ball vom Gegner gekommen sei und somit nicht Abseits, wurde er sofort von der Mehrheit belehrt: „Schwer zu sehen für den Schiri, aber der Ball kam nicht vom Gegner. Klar Abseits!“, so stellvertretend ein ausländischer Mitbürger. Selbst Torhüter Steins mißlungene Dribbelkunst außerhalb des Strafraums, die zum 0:3 führte, wurde mit fast unmenschlicher Gelassenheit kommentiert: „Natürlich mußte sowas irgendwann kommen. Aber sollen wir ihn jetzt dafür verdammen, nachdem wir ihn bislang dafür beklatscht haben?“, dozierte ein Börsianer. Ein Amerikaner sprach das Schlußwort: „They were so unfortunate.“

Bayer Leverkusen: Vollborn - Foda - Wörns, Kree - Fischer, Lupescu, Hapal, Stöver, van Ahlen (66. Scholz) - Kirsten (79. Tolkmitt), Thom

Zuschauer: 35.000, Tore: 0:1 Thom (6.), 0:2 Kirsten (73.), 0:3 Thom (75.), Rote Karte: Bindewald (54.) wegen „Notbremse“

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