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"Anderssein ist mehr als nur Design"-betr.: "Punk als Öffentlichkeitsarbeit" von Helga Schulz, taz vom 22.3.93

betr.: „Punk als Öffentlichkeitsarbeit“ von Helga Schulz,

taz vom 22.3.93

Ich bin immer noch Punk, studiere nichts und lebe weitab aller Metropolenkultur in der Provinz, sogar auf dem Dorf. Subjunkies, Großstadtwahnsinn kenne ich auch. Ich hab' mich über die Überheblichkeit der Expunk-Graphik-Design-Studentin geärgert, obwohl der Artikel auch interessant war. Sie braucht keine Natur, höchstens zum Auftanken als Ausgleich zum Großstadtstreß, um sich wieder kulturell auspowern zu können. Für mich sind Städte parasitär, weil sie nur nehmen, verbrauchen und zerstören, und sie entfremden vom Leben. Kultur gibt's auch in der Provinz und, mehr oder weniger selbstgemacht, auch auf dem Land, im Gegensatz zur Konsumkultur und dem Kulturkonsum in der Großstadt, die sie mittels Geld und Zerstreuung abhängig macht.

Auf dem Land schafft der Punk schon durch seine bloße Existenz in der Dorfstruktur Öffentlichkeit. Viele fühlen sich provoziert in der Gesellschaft, die Anpassung fordert zur Angst (vor allem Fremden) – Vermeidung. Dabei zeigt sich für viele, daß es auch andere Wege des Andersseins oder der Provokation gibt als Glatzen, Bomberjacken und Hakenkreuzpullover. Bei uns laufen Leute rum, die früher im Alter von 12, 13 Jahren „Böhse Onkelz“ und „Störkraft“ gehört haben, weil nichts anderes bis zu ihnen vorgedrungen ist. Punk wird überall gebrandmarkt. Punk ist Öffentlichkeitsarbeit überall dort, wo wir die Möglichkeit haben, ein Stück Freiheit zu leben und kreativ zu sein. Das Essen wächst nicht in Kaiser's-Regalen, sondern in der Erde. Konflikte sind persönlich. Anderssein ist mehr als nur Design. Die Stadt saugt an deiner Kreativität, wenn du zu viel Zeit brauchst zum Überleben. Freiheit für alles! Christoph Berger, Grebenhain

Helga Schulz' Untersuchung des Komplexes Mode/politische Orientierung in den Achtzigern war sowohl von intelligentem Humor als auch von einer unbestreitbaren Treffsicherheit gekennzeichnet. Ich möchte jedoch zwei Sachen ansprechen, die mit der allgemeinen Richtung der Artikel zu tun haben:

1983 war ich Zeuge einer Begegnung zwischen Kreuzberger Punks bzw. Hausbesetzern und einem Punk aus Kopenhagen. Der Däne war freundlich und höflich, stellte sich Neuangekommenen vor und verbreitete eine Atmosphäre von Gelassenheit, angereichert durch einen Schuß Ironie. Die Verwirrung und Unsicherheit, die seine Umgangsart bei den anwesenden Berliner Punks verursachte, waren unvergeßlich. Die von Helga Schulz gepriesene Individualität fehlte ganz, und der Eindruck war eher von einem Haufen in Verlegenheit gebrachter Kinder. Sie waren nicht in der Lage zu begreifen, daß die gesellschaftlichen Zusammenhänge, aus denen sie selbst hervorgingen, eben deutsch und nicht unbedingt in jedem Land vorhanden waren. Der Kopenhagener brachte deren Welt durcheinander, nur weil er nicht aggressiv war. Es stellt sich insoweit die Frage, ob die oft (selbst- )gelobte „Aggressivität“ der deutschen Punks nicht lediglich die hierzulande wohlbekannte Art war, vom Mangel an innerem Selbstvertrauen abzulenken.

Die zweite Frage betrifft die bemerkenswerte Tatsache, daß Punk trotz der eindeutigen antirassistischen Grundposition ohne Zweifel die weißeste Musikbewegung war, die es je seit Country & Western gegeben hat. Es stimmt zwar, daß Punk eine sehr besondere Beziehung zu Reggae/Dub pflegte, mit etlichen Crossover-Versuchen, jedoch nicht dermaßen einprägend wie der gewaltige Einfluß von Soul und Blues auf die Entwicklung der Rockmusik 1956–1970. War Punk eine Art Geständnis, daß die weiße Jugendkultur nun endgültig auf sich selbst zurückgeworfen wurde, und wollte oder konnte sich nicht mehr an der schwarzen Musik zwecks Energie und Erotik bedienen, da durch Punk eine Art von Separate Identity eingeführt wurde, die mit ungewolltem Rassismus eine Arbeitsteilung festlegte, in der die Schwarzen für Sinnlichkeit und Rhythmus zuständig sein sollten und die Weißen für Lautstärke und Härte?

Wie hätte sie wohl geklungen, „The Ballad of the Sensual Punks“, die nie geschrieben wurde? Martin Griffin, Berlin

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