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Durchlauf mit Notausgängen

„Lebensstationen in Deutschland 1900–1993“: Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin sucht privat Bedeutsames und sozial Gewöhnliches in Ost und West  ■ Von Barbara Häusler

Im Deutschen Historischen Museum fühlt man sich nicht nur für die großen historischen Ereignisse zuständig. Deshalb setzt man der Ereignisgeschichte die Alltagsgeschichte entgegen, sammelt neben Ritterrüstung und Staatsverträgen auch Pfeifenköpfe und Ohrensessel, belehrt das Publikum einmal mit einer Ausstellung zum Kalten Krieg und unterhält es ein andermal mit einer großen UfA-Schau.

Im Vorfeld der gegenwärtigen Ausstellung wurde eine Fragebogenaktion durchgeführt, in der Deutsche aus Ost und West nach ihrem wichtigsten Erlebnis im Jahr des Mauerfalls gefragt wurden. Interessanterweise nannten fast alle einen privaten Anlaß: eine Heirat, die Geburt eines Kindes, einen Schul- oder Berufsabschluß, einen neuen Job, den Verlust der Arbeitsstelle oder den Tod eines nahestehenden Menschen. Lebensstationen: das sind individuell wichtige Ereignisse, die ein Leben verändern und den Übergang von einem Lebensabschnitt in einen anderen markieren. Das privat Bedeutsame daran ist gesellschaftlich eher gewöhnlich, weil diese „Lebensstationen“ kollektiv geteilt werden. Und doch haben sich — neben den religiösen Riten wie Taufe, Kommunion und letzte Ölung — auch säkulare Rituale herausgebildet. Aus ethnologischer Perspektive betrachtet, bestätigen diese Feiern und Symbole auch in modernen Gesellschaften die Individualität eines Lebens und integrieren sie gleichzeitig sichtbar in eine sozial verbindliche Ordnung.

Die Ausstellung im Zeughaus spürt den Gemeinsamkeiten und Differenzen in den Alltagskulturen der beiden deutschen Staaten nach. Ihr Thema ist das Allgemeine, das Gewöhnliche und Massenhafte, in dem sich ein kollektives Bewußtsein artikuliert – ohne „Rücksicht auf die Einstellungen und Haltungen einzelner“. Geburt, Kindheit, Jugend, Ehe, Arbeit, Alter, Tod: die Symbole und Rituale der einzelnen Lebensphasen sind in der DDR und der BRD zum Teil ganz unterschiedlich – und zeigen gleichzeitig erstaunliche Parallelitäten.

Wie viele Abschnitte gliedern ein Leben? Woher kommen die für uns heute verbindlichen Vorstellungen? Haben sie sich verändert? Wie lassen sich „Lebensstationen“ in ihrer sozialhistorischen Unterschiedlichkeit zeigen? Mit diesen Fragen nehmen die Ausstellungsmacherinnen Rosmarie Beier (die bereits am Projekt „Leibesvisitationen“ am Deutschen Hygiene- Museum Dresden mitarbeitete) und Bettina Biedermann ihr Projekt in Angriff.

„Deutschland um 1900“ heißt das erste Ausstellungskapitel, das die Ursprünge eines Großteils unserer noch heute gültigen Vorstellungen davon verorten will, in welchen Stationen ein deutsches Leben zu verlaufen habe und wie sie angemessen zu gestalten seien. Erst nach 1900 wird beispielsweise das Vater-Mutter-Kind-Familienmuster verbindlich, und mit ihm verändert sich auch die Kindheit selbst; der Ort der Geburt, der Eintritt ins Leben, verlagert sich zunehmend aus dem Haus in die öffentlichen Krankenhäuser; „Wandervogelbewegung“ und organisierte Arbeiterjugend entdecken und etablieren „Jugend“ als eigenständige Lebensphase. Alter und Sterben sind dagegen noch häusliche Angelegenheiten, der Tod erhält nach Möglichkeit eine prunkvolle, offizielle Gestalt.

Illustriert und dokumentiert werden die Lebensstationen mit den Gegenständen, die sie begleiten: das Taufkleid, die Schultüte, der Wimpel, der Gesellenbrief, die Uniform, der Brautschleier, die Kaminecke, der Sarg. Attribute also, die kollektive Anerkennung und Verwendung finden. Das Lebensideal dieser Epoche in seiner ausstellungsarchitektonischen Interpretation: Lebenslauf und Lebensstationen kommen (beinahe) linear zur Deckung. So stolpert man in gerader Linie über die Schwellen (!) wilhelminischer Bilderrahmen von einem Kabinett ins andere. Und weil man seinen Lebensweg allein, allerhöchstens zu zweit beschreitet, ist der Durchlauf entsprechend eng. Das bleibt auch weiterhin so und ist, bei aller Hochachtung für ausstellungsarchitektonische Finessen, eine Zumutung. Das Leben mag ja ein Durchlauf sein, aber es gab und gibt glücklicherweise immer auch Notausgänge.

Kapitel zwei unserer (noch) gemeinsamen Geschichte beschreibt Bedeutungsverschiebungen während des Nationalsozialismus. Bestimmte Lebensstationen werden aufgewertet oder – wie der Reichsarbeitsdienst – neu „eingeführt“. „Muttertag“ und das Mutterverdienstkreuz sind Beispiele eines staatlich verordneten und ideologisch interessierten Aufhebens um die Mutterschaft, das sich gleichwohl durchsetzte. Viele der bekannten Attribute bleiben, neue kommen hinzu, andere verschwinden. Eine ruhige Kaminecke und ein würdevolles Begräbnis kann es in einer Epoche, die ihren Krieg mit einem Massensterben beendete, nicht geben. Leben (wie) im Nationalsozialismus: geregelten Schritts durchläuft der Besucher die Schlucht eines halben Hakenkreuzes.

Hier enden die gemeinsamen Wurzeln, und nicht nur die Geschichte teilt sich. Die inszenatorische Ausstellungsarchitektur, die die Thesen der Ausstellung in ganz besonderem Maße trägt, läuft im letzten Kapitel zu suggestiven Höchstleistungen auf. Je nach Laune (oder Herkunft?) wird man sich zunächst für den rechten oder linken Parcours entscheiden und die Lebensstationen der BRD oder der DDR durchstreifen. Die trennende Mauer ist gleichzeitig auch verbindende Brücke und als didaktischer Hochsitz geeignet, sich einen Überblick über den Lebensweg des „Anderen“ zu verschaffen, bevor man in Details eintaucht.

Auf „westlicher“ Seite herrscht primärfarbenes Durcheinander: die Lebensphasen in der pluralistischen Gesellschaft sind facettenreich, austauschbar und lebenszeitlich durchlässig, aber auch labyrinthisch und diffus. Die „östliche“ Seite präsentiert sich als gelbgetönte Zimmerflucht, nach Auskunft der Ausstellungsarchitektin in DDR-Originalfarbe: die Lebensstationen in der sozialistischen Gesellschaft sind schön geordnet, stark vereinheitlicht und klar voneinander abgegrenzt zu durchlaufen. Die „Draufsicht“: tendenziös oder eine „Tendenzthese“, der man doch irgendwie zustimmen kann und muß?

Die Angelegenheit ist komplexer, und der Teufel steckt wie immer im Detail. Differenzen und Gemeinsamkeiten waren gefragt, Attribute sollen sie belegen. Die Hochzeit in Weiß und die Einschulung mit Schultüte: diese Parallelitäten sind lediglich stilistische Übereinstimmungen. Die Ehe in beiden deutschen Staaten unterschied sich bekanntlich deutlich hinsichtlich Motivation, Funktion und Dauer, und dem ersten Schultag folgten (völlig) unterschiedliche Lern- und Ausbildungswirklichkeiten. Die Differenzen sind vielfältiger, aber auch schwieriger zu belegen. Das gilt nach Auffassung der Ausstellungsmacherinnen vor allen Dingen für die pluralistischen Gesellschaften. Jugendprotestkultur im Westen und FDJ- Organisation im Osten lassen sich mit Bildern und Objekten noch gut illustrieren und einander glaubhaft gegenüberstellen. Das allerorten konstatierte Verschwinden verbindlicher Raster im Westen führt dort jedoch zu einem „Symboldefizit“ und damit zu Definitionsproblemen. Wenn sich Lebensphasen statt durch verbindliche Attribute nur noch durch individalisierte Objekte, den Führerschein beim einen oder den ersten eigenen Mietvertrag beim anderen, beschreiben lassen, verwischen sich Konturen und Übergänge.

Sieht man etwas Neues? Kann man sich in seinen Lebensstationen wiedererkennen? Können es die „Anderen“? Versteht man mehr, nachdem man soviel voneinander gezeigt bekam? Ist bereits die ganze Wirklichkeit erzählt? Die DDR-Nischengesellschaft beispielsweise wird kaum thematisiert. Auch wenn sie sich öffentlich nicht präsentieren konnte, war eine DDR-Protestkultur vorhanden. Doch es geht nicht um die Frage, ob etwas fehlt: eine für einen selbst bedeutsame Lebensstation, die nicht aufgeführt wurde, ein Gegenstand, den man vermißt, denn die Ausstellung privilegiert ausdrücklich das „Allgemeine“ vor dem „Besonderen“.

In ihrem einleitenden Katalogbeitrag denkt Rosmarie Beier über das Verhältnis von Gegenstand und Geschehen, Attribut und Anlaß nach. Es ist üblich, schreibt sie, die Gegenstände als die Attribute des Geschehens zu betrachten, aber es könne sich auch umgekehrt verhalten: das Geschehen kann zum Attribut der Gegenstände werden. Übersetzt heißt das soviel wie: man bekommt die Schultüte, weil man eingeschult wird, aber man läßt sich konfirmieren, weil es da einen Fotoapparat gibt. Diese wechselseitige Zuordnung von Anlaß und Gegenstand ist nicht nur plausibel, sondern macht Zusammenhänge deutlich, die vielleicht nicht gerne gesehen oder zugegeben werden.

Doch was geschieht, wenn das Attribut eines Geschehens in eine Metapher für das einzelne Individuum oder gleich die gesamte Gesellschaft umkippt? Der Langhaarige von 1968 kennt diese Gesinnungslogik gut, und auch der Kindertisch aus einer DDR-Kinderkrippe lädt zu derlei Umdeutungen geradezu ein: die schwenkbaren Sitze konnten arretiert werden, nur ein von der Erzieherin bedienbarer Fußhebel die Kinder von ihrem Eßplatz befreien. Kollektives Angebundensein contra einsames Umfallen im westlichen Hochstuhl. Damit kann man Welten erklären, und gegen derlei Mißverstehen kann die Ausstellung weder sich selbst noch die Gegenstände schützen. Doch die angebotene „Mikroperspektive“ bleibt vom „Makroblick“ auch deshalb überschattet, weil sich ihre opulent illustrierte These schließlich wieder zum Gegensatz graue Repression Ost gegen bunte Diffusität West verdichtet.

In den zahlreich ausliegenden Besucherbüchern, zu deren Benutzung ausdrücklich eingeladen wird, sammeln sich schon nach wenigen Tagen Eintragungen, die, wie nicht anders zu erwarten, die Macht der Ressentiments und Empfindlichkeiten zeigen. Ihre Auswertung könnte zum individuellen Spiegel des in der Ausstellung behaupteten „Allgemeinen“ werden. Die darin sichtbar werdenden Idiosynkrasien im kollektiven Bewußtsein von ehemals zwei deutschen Staaten dürften schärfere Differenzen aufweisen als ein Preßspan- und ein Eichensarg.

Die Ausstellung ist noch bis 15. Juni im Zeughaus, Unter den Linden, zu sehen. Der Katalog kostet 68 Mark.

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