: "Bewege mich an zwei Wänden lang"
■ Einstürzende Neubauten spielen in Hamburg / Blixa Bargeld über die Band
INTERVIEW
»Bewege mich an zwei Wänden lang«
Einstürzende Neubauten soielen in
Hamburg/ Blixa Bargeld über die Band
Für ein Konzert im April 1980 gründete der Sänger und Texter Blixa Bargeld die Einstürzenden Neubauten. Bargeld gibt später an, zuvor sämtliche philosophischen Denkmodelle „durchgehechelt“ und keinen befriedigenden Lebensentwurf gefunden zu haben. Ein Stück wie „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ von Ton Steine Scherben begreift das Trio aus dem Schlagzeuger F.M. Einheit, dem Klangmaschinenbau-Ingenieur N.U. Unruh und Bargeld als Aufforderung zur schöpferischen Selbstzerstörung: Die erste LP erhält den Titel Kollaps. Deren Nachfolger Die Zeichnungen des Patienten O.T. dokumentiert, daß Irrsinn bei der Arbeit Gebrauchswert besitzt. Teils kokett, teils geständig erklärt Bargeld: „Gut ist, wenn ich die Kontrolle verliere.“ Die dritte LP Strategien gegen Architektur sieht die Rekrutierung der neuen Mitglieder Alexander Hacke (Gitarre) und Marc Chung (Bass). Wo ab den 70ern Betroffenheit über das Schicksal anderer (in der dritten Welt) geherrscht hatte und die Aussicht auf die eigene Zukunft (Nato-Doppel-Beschluß) oft in Selbstmitleid endete, haben sich die Einstürzenden Neubauten ein neues Arbeitsfeld erschlossen: Das zur Disposition gestellte Ego, das sich seinen Weg durch die Fähigkeit bahnt, in sich aufzunehmen, was es umgibt. Oder das, was es zerstören will, künstlerisch vorwegzunehmen. Die Platte 1/2 Mensch enthält dann Stücke, in denen psychische Extrembefindlichkeiten in physisch meßbare Angriffe münden: „Es tanzt das ZNS“. Das Bild vom „gebeutelten Körper“ setzt sich als Grundmotiv gegenüber der bisher ausgerufenen „Katastrophe als Hoffnungsträger“ durch. Für einen Augenblick verwandeln sich die Einstürzenden Neubauten in eine Rockband: Opferhaltung, Integrationsbedürfnis und machtvolles Auftreten gehen zusammen, wenn sich die Mitglieder auf dem Cover ihrer nächsten Platte in einem Erdbeben der Stärke 5 auf der nach oben offenen Richterskala wiederfinden. Auf Haus der Lüge arbeiten sie heraus, wie „etwas funktioniert, daß nicht die Wahrheit ist“ (F.M. Einheit). 1991 stellt das Quintett einen Querschnitt seiner Arbeit zwischen 1984 und 1990 zusammen. Auf Strategien gegen Architektur 2 folgt das aktuelle Album Tabula Rasa. Kristof Schreuf unterhielt sich mit Blixa Bargeld über die vielgeschmähte neu Platte und mehr.
Ich habe nach Durchhören eurer jüngsten Veröffentlichung...
Man muß wohl von Veröffentlichungen reden. Es kommen zwei Singles heraus, die unter anderem französische und japanische Versionen des Stücks „Blume“ und von „Die Interimsliebenden“ enthalten. Wir haben zusätzlich Aufnahmen aus unserer Theaterarbeit in petto (F.M. Einheit - Prometheus/Lear und Alexander Hacke - Filmarbeiten beide Rough Trade). Außerdem, sozusagen, erscheint noch das Album Tabula Rasa. Also: Veröffentlichungen, Plural!
Danke! Ich habe den Eindruck, daß du bei „Halber Mensch“ noch an thematischen Zuspitzungen interessiert warst, jetzt aber an einer Art Ver-Satz-
1Stück-Reihen.
Naja, auf Halber Mensch ist kein Wort auswechselbar, auf Tabula Rasa jeder zweite Satz.
Diese sieben neuen Stücke nehmen sich aus wie ein weder systematisch noch vollständig gefüllter Setzkasten.
Warum sollte der Zusammenhang bei Einstürzenden Neubauten-Stücken stärker sein als bei irgendjemand oder irgendetwas anderswo?!
Weil die Grenzen eine Haltung wie die von „Haus der Lüge“ auf diese Weise ihre Schönheit gewannen.
Im Grunde genommen bewege ich mich bei den Texten für die neue Platte an zwei Wänden lang, die zusammen eine eindeutige Perspektive ergeben. Zunächst mal richten sich alle Stücke an ein mehr oder weniger bezeichnetes „Du“. Das ist die eine Wand. In einigen Stücken findet eine Gegenüberstellung mit diesem „Du“ statt. Das ist die
1zweite Wand, die mit der ersten
den „Grundriss“ meines Zusammenhangs ergibt. Bei einigen Dingen bin ich mir aber selbst noch nicht ganz im Klaren: Weißt du zum Beispiel, was das Wort „Semtext“ bedeutet?
Nein.
N.U. Unruh hat es sofort verstanden. Oder „Zebulon“? Ich kann dir nicht sagen, warum das Stück diesen Titel trägt. Einige Worte gewinnen mit der Zeit weitere Bedeutungen.
Kannst du etwas darüber sagen, wie ihr heute zusammenarbeitet?
Wir kommen über eine Aufgabe zur Lösung einer zweiten. Das ist der Fall, wenn beispielsweise N.U. Unruh für ein bestimmtes Stück eine seiner Maschinen baut, und wir anderen merken, daß ihr Klang so gut, wie für das Stück unbrauchbar geworden ist. So legen wir das
1begonnene Material zur Seite und
fangen unter veränderten Bedingungen von vorne an. Ansonsten kommen wir im Studio zusammen und „lassen es passieren“.
Unterhältst du dich mit den anderen über deine Texte?
Das kommt auf die Chronologie in der Arbeitsweise an. Es hat sich herausgestellt, daß die Musik zu schreiben schwieriger war, wenn es schon einen Text gab. Dann wurden auch mehr Diskussionen notwendig. Außerdem gab es bei den neuen Stücken textlich mehr Alternativen und Korrekturphasen als bisher. Von „12305(te Nacht)“, einem lyrisch angelegten Stück, existiert zum Beispiel eine komplett andere, wütendere Fassung.
Könnte man sagen, daß mittlerweile die Einstürzenden Neubauten musikalisch das zusammenholen, wofür F.M. Einheit bei „Stein“ (Theatermusik mit
1den „Rainbirds“ Katharina Frank und
Ulrike Haage) und du bei „Alert“ (mit „Die Haut“) Pionierarbeit leisten?
Diese Projekte haben unter anderem eine soziale Komponente für die Einstürzenden Neubauten untereinander. Schließlich sind die Einstürzenden Neubauten eine Überfigur, die es ohne unsere Mitarbeit in anderen Bands nicht mehr gäbe. Was den kreativen Input angeht, sind aber wie bisher alle beteiligt.
Ich hatte aber auch den Eindruck, daß sich auf „Tabula rasa“ ziemlich unterschiedliche Mikrokosmen nach dem gleichen Prinzip voneinander abstoßen: Nämlich nicht mehr hinter die Leistungen zurückzuwollen, die außerhalb der Band erbracht worden sind.
Was sollte daran schlecht sein? Die gemeinsame Gruppe verliert dadurch ja nicht ihr Potential als Versuchsfeld.
15.4., Große Freiheit
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