■ Spielsucht: Die Krankheit, bei der keine Medizin hilft: „Wir Spieler sind einsame Wölfe“
Madrid (dpa/taz) – „Ich bin ein vollkommener Trottel“, zürnt Mariano Carnicero mit sich selbst. Die Spielsucht hat den ehemaligen Unternehmer alles gekostet: seine Familie, seine Gesundheit, seine Arbeit und sein einst beträchtliches Vermögen. „Wie alle Spielsüchtigen habe ich schon 40mal versucht, aufzuhören, und nach drei Tagen wieder angefangen, 27 Jahre lang. Ich habe einen Selbstmordversuch hinter mir. Mit meiner Familie habe ich nie gesprochen. Wir Spieler sind einsame Wölfe.“
Der 55jährige Carnicero war einer von rund 40.000 Spielsüchtigen in Madrid. In ganz Spanien sind nach Schätzungen fast eine halbe Million Menschen von Renn- und Fußballwetten, Geldspielautomaten oder der Lotterie abhängig. „Der Weg zur Spielsucht beginnt langsam, bis du das Geld, das du ausgibst, nicht mehr kontrollieren kannst“, hat Carnicero erfahren müssen. Er ist der Spielsucht wieder entkommen. Seit drei Jahren leitet er mit einem Psychologen die „Organisation der rehabilitierten Spieler“ in Madrid. In den vergangenen Jahren sind in Spanien 30 ähnliche Verbände entstanden, die Gruppen- und Familientherapien anbieten. Die Süchtigen werden vom ersten Tage an auf Entzug gesetzt. Die Hälfte hält durch und hat sich nach sechs bis zwölf Monaten befreit. Eine ganze Reihe von ihnen wird jedoch wieder rückfällig. „Die wenigsten wissen, daß Spielsucht eine Krankheit ist“, klagt der Madrider Psychiater Sainz Ruiz. Vor einem Jahr glaubte er, ein Medikament gegen die Spielsucht entdeckt zu haben. Seine Arznei sollte den Nervenzellen im Gehirn Serotonin verschaffen – ein Stoff, dessen Mangel den Spielsüchtigen vermutlich abhängig macht. Die Hoffnung trog. „Das Problem läßt sich mit Medikamenten nicht lösen“, stellt der Psychiater heute nach einjähriger Experimentierphase enttäuscht fest. Besorgniserregend findet Carnicero die explosionsartige Verbreitung von Videospielen unter Jugendlichen. Letztes Jahr lagen Videospiele für rund 1,8 Milliarden Mark unter dem Weihnachtsbaum. In den „Erholungssalons“, wie in Spanien die Spielhöllen genannt werden, ist nach der Erfahrung von Carnicero der Schritt vom Videospiel zu den lärmenden Geldspielautomaten nicht weit. Nach einigen Jahren kann es dann soweit sein wie bei einer 30jährigen Süchtigen, die sich bei ihm meldete. Sie verliert täglich 10.000 Peseten, etwa 140 Mark, an die „einarmigen Banditen“.
Carnicero und seine Kollegen würden lieber heute als morgen Warnschilder in Bingo- und Spielsalons sehen. „Das Spiel kann ihrer Gesundheit und vor allem ihrem geistigen Wohlergehen schaden“, schwebt ihm als Text vor. Vom Staat erhofft er sich jedoch keine Unterstützung: „Den Staat kosten die Spielsüchtigen nichts, im Gegenteil, er verdient an ihnen.“
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