: „Ein Tag der Hoffnung“
Zehntausend Metaller demonstrierten in Dresden für die Einhaltung des Tarifvertrages/ Warnstreiks in Betrieben der Oberlausitz ■ Aus Dresden Detlef Krell
Volksfeststimmung am „Goldenen Reiter“ in der sächsischen Landeshauptstadt. Wo bei strahlendem Sonnenschein bis eben die Spaziergänger zwischen Imbißbuden und Schuhgeschäften flanierten, ist innerhalb weniger Minuten kein Durchkommen mehr.
Eine „Atmosphäre flächendeckender Übellaunigkeit“ hatte SPD-Vize Wolfgang Thierse noch am Vortage auf der Konferenz sächsischer Betriebsräte beklagt. Sie sei verschuldet von Politikern, die sich durch „Feigheit vor dem eigenen Volk“ auszeichnen.
Keine Spur von übler Laune zeigen die Dresdner MetallerInnen bei ihrer Premiere. Sie haben die „Angst vor den eigenen Chefs überwunden und sind mit klarem Kopf auf die Straße gegangen“, wie ein Kollege stolz erklärt. Ganze Belegschaften rücken in Arbeitskluft heran, mit Transparenten, IG-Metall-Fahnen.
Zu den ersten gehören die KollegInnen von AEG Siemens. „Wir sind alle hier“, erklärt ein Vorarbeiter für seinen Bereich. „Von den Arbeitern“ sei wohl keiner in der Firma geblieben. „Und auch von der Verwaltung sind viele dabei.“ Die Geschäftsführung habe gelassen reagiert, nur gesagt: „Bezahlt kriegt Ihr es nicht.“ Aber das hätten sie schon vorher gewußt.
Einer der Arbeiter mit dem AEG-Logo auf der Kombi ist Jürgen Winderlich. Er hofft, daß die Vertragspartner nach dem Warnstreik „wieder an einen Tisch gehen“. In der Tarifgruppe 7 verdiente er bis zum Vortag um die 1.700 Mark brutto. Nach dem Willen der Arbeitgeber würden nun, ab 1. April, 150 Mark brutto hinzukommen. Für seine Wohnung muß er 400 Mark Kaltmiete hinlegen, dazu 1.500 Mark im Jahr für Kohlen. Dabei erhält er 56 Mark Wohngeld. Die Ehefrauen seiner Kollegen, soweit sie Arbeit haben, verdienen meistens weniger als die Männer; da sei ein Haushalt mit 2.000 bis 2.500 Mark netto „schon ein gutes Einkommen“.
Bernd Uhlmann trägt das Transparent der Elbeflugzeugwerke. Auch dessen Belegschaft ist vollzählig gekommen. Der Geschäftsführer, Chef des Sächsischen Metallarbeitgeberverbandes, habe „bis gestern abend nicht damit gerechnet, daß wir tatsächlich auf die Straße gehen“. Die Unternehmer hätten „vergeblich mit der Angst um Arbeitsplätze“ spekuliert, ruft der Dresdner IG-Metall-Chef Ralf Konstanzer den zehntausend Kundgebungsteilnehmern zu. Der 1. April sei für die Unternehmer ein „Tag der Schande“, für Gewerkschafter dagegen „ein Tag der Hoffnung“. Sachsen solle „zum Exerzierfeld für eine Wende in der Gewerkschaftsbewegung“ gemacht werden, gibt er den KollegInnen die politische Dimension dieses Warnstreiks zu verstehen. Für die Gewerkschaft erklärt er: „Wir wollen nicht den Streik, aber wir werden ihm auch nicht ausweichen.“ Hätten die Arbeitgeber „auch nur einen Funken von Charakter“, sie wären mit den Belegschaften gemeinsam auf die Straße gegangen, „um gegen die Bonner Politik zu protestieren.“
Statt dessen hätten sie in den Betrieben Mahnungen ausgehängt. Die Arbeiter sollten „Disziplin bewahren“, zu deutsch: „die Fabriken nicht zerstören“. Doch der Zusammenbruch zehntausender Arbeitsplätze in der Industrie sei nicht das Werk der Arbeitnehmer, entgegnet er solchen „Appellen, die wir nicht brauchen“.
Gräben zwischen den KollegInnen in Ost und West wollen die sächsischen MetallerInnen nicht aufreißen. Doch wenn sie zulassen, daß der vereinbarte Stufenplan gekippt wird, dann „sind wir noch in zehn Jahren wie heute bei 50 Prozent des Realeinkommens unserer westlichen Kollegen“. Dieser Prognose des sächsischen IG-Metall- Chefs stimmte auch die Sprecherin einer Delegation aus Schweinfurt und Duisburg zu. Heike John stärkte den Sachsen den Rücken: „Eure Forderungen sind berechtigt, um ein soziales Abgleiten der Arbeitnehmer in Deutschland zu verhindern.“ Die Kündigung des Tarifvertrages wertete sie als „erneuten Versuch, eine Wende in der deutschen Tarifpolitik herbeizuführen.“
Bereits auf der Konferenz der Betriebsräte hatte Hasso Düvel die nächsten Schritte der Gewerkschaft abgesteckt. „Wenn sich nichts rührt“, werde nach Ostern eine zweite Welle von Warnstreiks folgen. Bleibt auch die ohne die erwarteten Folgen, werde die IG Metall Sachsens am 19. April die Urabstimmung beantragen, „und noch vor dem 1. Mai“ stehen alle Räder still.
Zur gleichen Stunde hatte der Arbeitgeberverband gegenüber der Presse erklärt, daß 95 Prozent der Mitgliedsfirmen zum 1. April 9 Prozent mehr Lohn und Gehalt zahlen. 5 Prozent bleiben unter den Verbandsempfehlungen, wovon 6.000 bis 8.000 ArbeitnehmerInnen betroffen sind. Einige Betriebe, deren Namen nicht genannt wurden, wollen „mehr als 9 Prozent“ zahlen.
Die Belegschaften betonen, daß der Stufenplan bereits „eine rein politische Lösung“ gewesen war, um für beide Seiten berechenbar die Lebensverhältnisse in Ost und West anzugleichen – so, wie es von den regierenden Politikern verhießen worden war. „Wir sind diejenigen in dieser Gesellschaft, die immer wieder um die Existenz von Betrieben kämpfen“, heißt es dazu auf der Kundgebung.
Mehr als 5.000 Dresdner KollegInnen haben zu diesem Warnstreikauftakt den Arbeitsplatz verlassen. Mit ihnen sind Arbeitslose und Gewerkschafter anderer Branchen gekommen. Hasso Düvel teilt der Kundgebung mit, daß mehr als 50.000 von den 60.000 sächsischen MetallerInnen aus 100 Betrieben auf der Straße sind.
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