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■ In den USA wird das Regieren neu erfundenDer dritte Weg – Kunde Bürger

„Reinventing Government“ – das Regieren geradezu wie das Rad neu erfinden, ist geflügeltes Wort in Washington. Am liebsten möchte man der First Lady, unter deren Vorsitz eine 400köpfige Arbeitsgruppe an einer Reform des Gesundheitswesens knobelt, soufflieren, daß die Prinzipien einer allgemeinen Krankenversicherung bereits im 19. Jahrhundert von Bismarck entwickelt worden sind. Schulpflicht und öffentliches Schulwesen sind erprobte Errungenschaften der bürgerlichen Revolution. Eigentlich besteht kein Anlaß, an diesen Prinzipien zu rütteln. Wirklich nicht?

Doch die vielbeschworene Kostenlawine im Gesundheitswesen ist kein spezifisch amerikanisches Problem. Auch im AOK-Musterländle spricht man von der Notwendigkeit, Elemente des Wettbewerbs in das Krankenversicherungswesen einzuführen. Zudem nimmt die Zahl der Kinder zu, die von öffentlichen auf private Schulen wechseln. Am Ende kann man vielleicht gar auch in Europa etwas von den schmerzlichen Versuchen Amerikas lernen, Schul- und Gesundheitswesen neu zu erfinden?

Das ehrgeizigste Projekt der Clinton-Regierung, angeführt von Vize Al Gore, ist ein Versuch, den gesamten Regierungs- und Verwaltungsapparat umzuwälzen. Kein Zweifel, das Infragestellen der Legitimität von Regierung überhaupt sowie das schon manische Ressentiment gegen Bürokratie sind Ausdruck der für Amerika typischen Staatsfeindlichkeit. Hypertrophierte Bürokratien aber, die sich verselbständigen, sind Ausdruck der wachsenden Entfremdung zwischen Staat und Gesellschaft und ein Problem aller modernen Demokratien.

Kafkas ewiger Alptraum

Bürokratien gehören zu den stabilsten Einrichtungen, die Menschen je geschaffen haben. Andererseits ist ihr bedrückender Charakter ein auf Erfahrung beruhender Gemeinplatz. Im „Schloß“ hat Kafka für den zeitlosen Alptraum Bürokratie ein modernes Symbol geschaffen. C. Northcote Parkinson (der mit dem Parkinsonschen Gesetz), jener kürzlich verstorbene und vor allem durch seine genialen Aphorismen bekannte Analytiker gesellschaftlicher Absurditäten, beschrieb die beiden Triebkräfte von Bürokratien folgendermaßen: 1.) Statt Konkurrenz bringen sie immer neue Unterabteilungen hervor, die 2.) Arbeit füreinander schaffen. So kommt es, daß die Anzahl der Beamten und Angestellten im US-Landwirtschaftsministerium im gleichen Maße zunimmt, wie die Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten schrumpft. Während John F. Kennedy außer seinen Kabinettsmitgliedern nur deren Stellvertreter und noch die Abteilungsleiter zu ernennen hatte, muß Bill Clinton heute neun (9) Ebenen des Regierungsapparates besetzen.

Diese Entwicklung ist nicht auf Staatsapparate beschränkt. Die Meldungen von Massenentlassungen und Umwälzungen auf den Chefetagen von IBM, General Motors, American Express und Sears Roebuck haben gezeigt, daß in der freien Wirtschaft der Markt größere Effizienz zur Not auch katastrophisch durchsetzt. Genau davor sind Staatsbürokratien gefeit, es sei denn, sie erleben große politische Umwälzungen wie in der UdSSR oder der DDR.

Wie marmoriertes Steak

Der Weg nun, den die Clinton-Regierung nimmt, geht weit über Stellenstreichungen, Einstellungsstopp und Ausgabenkürzungen hinaus – er berührt die Arbeitsweise von Bürokratie selbst. Mit Geldverschwendung und Reibungsverlust hat es in bürokratischen Apparaten die gleiche Bewandnis wie mit dem Fett in den Steaks gut gemästeter Rinder. Man kann den Fettrand nicht einfach abschneiden. Auch marmorierte Bürokratien muß man anders entfetten. Das drastisch anschauliche Bild entstammt einem Buch, das zur Bibel der Clinton- Leute wurde: Regierung neu erfinden – Wie unternehmerischer Geist den öffentlichen Sektor verwandelt (von David Osborne und Ted Gaebler). Verwaltung muß dem rauhen Klima der freien Marktwirtschaft ausgesetzt werden und unternehmerisch denken und handeln lernen: Staatsausgaben sind wie Investitionen anzusehen, die sich gefälligst zu rentieren haben, Verwaltungen müssen Dienstleistungen erbringen, die Bürger sind Kunden – und der ist bekanntlich König.

Das Aufeinanderprallen der nun folgenden Argumente ist ermüdend: Die Privatwirtschaft könne alles besser, sagen die Konservativen und wollen möglichst viele öffentliche Bereiche privatisieren. Nein, kontern die Sozialdemokraten, bestimmte Bereiche funktionieren nun mal nicht nach dem Prinzip der Profitmaximierung und gehören unter öffentliche Kontrolle. Osborne/Gaebler aber wollen ebensowenig wie Clinton und Gore diese ausgeleierte Alternative, sondern einen neuen Weg. Letztlich geht es dabei um nicht weniger als das, was Marx im „Bürgerkrieg in Frankreich“ schrieb: „Die Kommune machte das Stichwort aller Bourgeoisrevolutionen – wohlfeile Regierung – zur Wahrheit, indem sie die beiden größten Ausgabenquellen, Armee und Beamtentum, aufhob.“

Gaebler und Osborne sehen sich als Kartographen politischen Neulandes. Noch gibt es keine geschlossene Theorie unternehmerischer Verwaltung, sondern nur Tausende von Experimenten, die – zumeist aus der Not geboren – überall im Lande gemacht wurden. In Phoenix, Arizona, etwa legte sich die Stadt mit ihrer eigenen Müllabfuhr an. Sie schrieb die Entsorgung öffentlich aus. Der Gewerkschaft kam man entgegen: Firmen, die den Auftrag für einen der Stadtsektoren bekamen, mußten städtische Angestellte einstellen. Nach erstem Entsetzen beteiligte sich die Müllabfuhr selber an der Ausschreibung, und nach Jahren schmerzlicher Umorganisation konnte sie die privaten Konkurrenten aus dem Felde schlagen.

Zu den kühnsten Projekten gehören die Experimente im Schul- und Erziehungswesen. Im Staat Minnesota z.B. wird in einem Pilotprojekt ein Teil des Geldes, das der Staat für Schulen ausgibt, nicht den Schulbehörden, Direktoren und Lehrern, sondern den Eltern zur Verfügung gestellt, die es an der Schule ihrer Wahl in Form von Schulgeld ausgeben können. Plötzlich bemühen sich Schulen um Schüler und lassen sich einiges einfallen. Dies alles hat nicht nur mit Geldsparen und Maximierung von Verwaltungseffizienzen, sondern mit Demokratie und einem neuen Verhältnis des Bürgers zum Staat zu tun. Eine grundlegende Verwaltungsreform gibt dem Bürger seine Mündigkeit zurück, er ist in jeder Phase der Reform gefragt.

Telemokratie

Diesmal könnte der Großangriff auf Washingtons babylonische Bürokratie, den jeder Präsident neu verspricht, zum Erfolg führen. Nie war die Verbitterung im Lande über das Mißverhältnis von Steuerlast und staatlicher Leistung größer. Sie brachte das Perot-Phänomen hervor und fegte die Bush- Regierung weg. Was aber die ersten 100 Tage der Clinton-Regierung auszeichnete, das Wirken neuer Elemente von direkter, elektronischer Demokratie, wird auch die Verwaltungsreform beeinflussen. Schon sind gebührenfreie Telefonnummern bekannt, über die Beamte und Bürger anonym Hinweise auf Verschwendung geben können. Zur Diskussion der Verwaltungsreform ist ein Computer- Bulletin-Board eingerichtet worden, in das sich jeder einloggen kann: Stichwort? – natürlich „Regierung neu erfinden!“. Reed Stillwater, Washington

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