: Jubiläum ohne Jubilarin
Hundert Jahre Arbeitersport in Deutschland/ Wohlgesetzte Worte zum Geburtstag einer „sozialgeschichtlichen Fossilie“ ■ Aus Leipzig Jan Motte und Oliver Doetzer
„Über Tote nichts als Gutes!“ Alle waren sich einig, das längst dahingeschiedene Geburtstagskind, die Arbeitersportbewegung, hat es verdient, in den Festreden zu ihrem hundertsten Geburtstag, der im Rahmen eines Symposiums am 2. und 3.April in Leipzig wissenschaftlich hochkarätig begangen wurde, mit wohlgesetzten Worten belobigt zu werden.
Da sich die so Geehrte nicht wehren konnte, bleiben auch späte Vereinnahmungsversuche ungestraft. Anfänglich als „Klimbim- Vereine“ von SPD-Parteivorständen argwöhnisch betrachtet, bildete sich während des Kaiserreichs eine selbständige Organisationsstruktur innerhalb der Arbeiterkulturbewegung heraus, die in den zwanziger Jahren, als „Arbeiter Turn- und Sportbund“ (ATSB) mehr als eine Million Mitglieder hatte.
1933 von den Nationalsozialisten zerschlagen, wurde sie weder in der BRD noch in der DDR in der alten Form wiedergegründet. In den Fensterreden konnte jeder Gratulant seinem Hang zur liebevollen Umarmung rhetorisch freien Lauf lassen. Sowohl Hans Hansen als Präsident des Deutschen Sportbundes (DSB) als auch der Deutsche Turnerbund proklamierten die Fortführung der Arbeitersporttraditionen in ihren Verbänden.
„Wir waren Marxisten, wir haben auf der Straße gekämpft, unser Sport war in erster Linie klassenbewußt.“ Nein, natürlich nicht mehr Hans Hansen als klassenbewußter Sportproletarier, sondern ein Zeitzeuge aus der Arbeitersportbewegung. Die Verwerfungslinien und Brüche wurden erst jenseits der Festreden deutlich. Sie waren eher von der tagespolitischen Absicht motiviert, deutlich zu machen, daß die Ossis die Proletarier der neunziger Jahre seien und es daher einen Sportentwicklungsplan, einen zweiten „Goldenen Plan“, geben müsse, denn „wer richtig im Verein Baseball spielt, kann seinen Schläger nicht zweckentfremden“.
Zerrissene Schleier der Harmoniesucht
Wer den Schleier der Harmoniesucht durchstoßen wollte, mußte bis in die Arbeitskreise des Symposiums vordringen. In ihren Diskussionen wurde die Dominanz des hauptsächlich durch westdeutsche Sozialhistoriker bestückten Podiums durchbrochen. Hier trafen sie aufeinander, der sporthistorisch gebildete Berliner Senatsangestellte mit „Olympia 2000“-Sticker am Revers, der klassenbewußte Arbeitersportler aus den zwanziger Jahren, der trotz lukrativer Angebote unter keinen Umständen zum bürgerlichen Handballverein wechseln wollte, und die Überreste der größtenteils abgewickelten DDR-Sporthistorikerzunft. Die Letztgenannten waren nur noch Schatten ihrer selbst, die in den Arbeitskreisen verlorene Schlachten zugunsten ihres Lieblingskindes, der revolutionären „Roten Sporteinheit“, von 1928 schlugen.
Auf dem Podium war man sich hingegen einig. Wissenschaftliche Kontroversen wurden salomonisch beendet. Demnach ging es mit der Klassenkultur im Höhepunkt der Solidargemeinschaft, also zur Zeit der Weimarer Republik, bergab. Oder man gab sich gegenüber der „sozialgeschichtlichen Fossilie“ so gönnerhaft wie der Tübinger Historiker Dieter Langewiesche, der der Arbeiterkulturbewegung großzügig den Nobelpreis zukommen lassen wollte. Sie habe die größte Integrationsleistung vollbracht, indem sie das Industrieproletariat in eine sich wandelnde privatkapitalistische Industriegesellschaft eingegliedert habe. Da kann man nur noch gratulieren.
Was hier im akademischen Diskurs als „Entproletarisierung“ analysiert wurde, empfanden zahlreiche Arbeitersportler nach 1945 schlicht als zweite Niederlage nach dem Verbot 1933. Zum Teil mit Verbitterung wurde damals wie heute das Aufgehen der Arbeitersportbewegung im bundesdeutschen Einheitssport beklagt. Die Idee, die Einheitssportbewegung mit der Kraft des vermeintlichen „sozialistischen Sauerteigs“, den man für stark genug hielt, den später gegründeten DSB zu durchdringen, hätte mit den Erfahrungen der Weimarer Zeit realistischer beurteilt werden müssen. Rund 1,3 Millionen Arbeitersportler standen über sieben Millionen Mitgliedern in bürgerlichen Vereinen gegenüber.
Doch keine „linke“ Geschichte ohne Utopie: Am 16.November 1992 feierte die verblichene Bewegung Auferstehung, der ATSB wurde wiedergegründet. Als Riegenführer an seiner Spitze stehen die bekannten Helden der Arbeiterklasse Annemarie Renger, als Tochter des führenden Arbeitersportlers Fritz Wildung die Jeanne d'Arc des Nachkriegsarbeitersports, sowie Rudolf Scharping, Vorturner aus Rheinland-Pfalz. Unter ihrer Führung wird in erster Linie versucht, Ansprüche auf die 1933 von den Faschisten gestürmte und dann enteignete Bundesschule des ATSB, das 1926 eingeweihte Ausbildungszentrum der Arbeitersportbewegung in Leipzig, geltend zu machen, um so Traditionen an dieser Stelle fortsetzen zu können.
Malcolm X-Kids aus der Leipziger Bronx
Beim Lokaltermin in der Bundesschule war der Innenhof bereits mit Leben erfüllt. Malcolm X-Shirts tragende Kids aus der Leipziger Bronx spielten Streetball und interessierten sich wenig für dieses Herzstück der straff organisierten sozialistischen Sportbewegung. Sie stehen für den „wilden“, unorganisierten Sport, jenseits der bürgerlichen und sozialistischen Vereinsorganisation. Die Historisierung dieses alternativen Sportverständnisses wird man bei den Schnittchen der Friedrich-Ebert- Stiftung und Historiker-Smalltalk wohl niemals erleben.
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