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Den Feind beirren und die Bevölkerung täuschen

■ Tomsk-7: Eine der „geschlossenen Städte“, die auf keiner Landkarte erscheinen

Tomsk-7 und Sewersk – zwei Namen für eine und diesselbe Stadt, die auf keiner offiziellen sowjetischen Landkarte verzeichnet war. Rund 108.000 Menschen leben hier, etwa 2.800 Kilometer südöstlich von Moskau am Fluß Tom in Sibirien. Nur wenige Auserwählte wußten genau, was das Chemiekombinat in ihrer Nachbarschaft tatsächlich jahrzehntelang herstellte und warum ihre Stadt für Besucher von außerhalb praktisch völlig gesperrt war: Plutonium für die Atomwaffen der Supermacht UdSSR.

Die Waffenschmiede, die dem Ministerium für Atomenergie und -industrie untersteht, ist eine von mindestens zehn „Geschlossenen Städten“ in der ehemaligen Sowjetunion. Durch verwirrende Mehrfach- und Tarnbenennungen versuchten die Militärs, den Feind in die Irre zu führen. Selbst die eigene Bevölkerung wollten sie täuschen – indem gefährliche Nukleartransporte auf LKWs mit so harmlosen Aufschriften wie „Eier“ und „Möbel“ durchgeführt wurden. „Bis heute gibt es nur sehr spärliche Informationen über die Anlage“, so Otfried Nassauer vom Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit.

Die seit 1958 in Betrieb gegangene Anlage bestand einst aus fünf graphitmoderierten Reaktoren mit einer Gesamtleistung von mehr als 600 Megawatt, von denen heute vermutlich noch ein oder zwei laufen. Außerdem gehört eine Wiederaufbereitungsanlage zu dem Komplex, die wahrscheinlich auch aus den 50er Jahren stammt. Hier wurde aus abgebrannten Brennstäben waffenreines Plutonium und angereichertes Uran höchster Qualität hergestellt.

Die vergangenen Jahre brachten erhebliche Veränderungen für die ehemals sowjetische militärische Atomindustrie. Vereinbarungen über atomare Abrüstung und nicht zuletzt der Zerfall der Sowjetunion führten zu einem deutlich verringerten Bedarf an neuem Waffenplutonium und -uran. Mitte des letzten Jahres waren von den ursprünglich 14 nur noch drei oder vier Reaktoren für die Plutonium- Produktion in Betrieb.

Daß in Tomsk-7 bis heute möglicherweise noch Bombenmaterial hergestellt wird, erklärt sich aus einer Besonderheit der russischen Nuklearindustrie: Anders als die USA verfügt Rußland nicht über die technischen Möglichkeiten, Americum 241 – ein Atomwaffen „verunreinigendes“ Zerfallsprodukt von Sprengkopf-Plutonium – abzuspalten. Weil aber Americum 241 die militärische Brauchbarkeit der Atomsprengköpfe erheblich verringert, verlangten die russischen Militärs stets frisches Material für ihre Waffen, so Vertreter des russischen Atomministeriums.

Der Unfall vor vier Tagen ist beileibe nicht der einzige, den es in diesem Werk gegeben hat. Auf einer Konferenz über die sozialen und ökologischen Folgen der Atomwaffenproduktion, die im Februar 1992 in der 15 Kilometer weiter südlich gelegenen Stadt Tomsk stattfand, berichteten ehemalige Mitarbeiter über die Katastrophen des Normalbetriebs. Der frühere Büroleiter Grigorjew war zuständig für das Bestandsmanagement an Nuklearmaterial. Er berichtete, daß nicht nur die technischen Vorschriften unterlaufen wurden, sondern auch mit doppelter Buchführung vertuscht wurde, daß gelegentlich spaltbares Material verloren ging. Als man Schlacken mit einem Plutoniumgehalt von 20 Gramm pro Kilo entdeckte, beseitigten Bulldozer das Problem, indem sie das Material in einfache Erdlöcher kippten. Sogar nach offiziellen Angaben wurden zwischen 1964 und 1990 über Bohrlöcher etwa 33 Millionen Kubikmeter flüssiger radioaktiver Abfälle mehrere hundert Meter tief in die Erde gepumpt, vermutlich in Wasser führende Schichten.

Der ehemalige Brigadier Strjaschin ergänzte die Katastrophenmeldungen mit dem Hinweis, daß Ende der 60er Jahre ab und zu 1,5 bis 3 Kilo Plutonium durch die Kanalisation entschwanden. Bis in die jüngste Vergangenheit sollen noch große Mengen strahlenden Materials in den Fluß Tom entsorgt worden sein. Die Bevölkerung aber erfuhr erst im April 1990, neben welcher Zeitbombe sie seit Jahrzehnten wohnte. Die Iswestija traute sich endlich zu schreiben, daß 38 untersuchte Anwohnern über den zulässigen Grenzwert hinaus verstrahlt worden seien; vier Erwachsene und drei Kinder mußten ins Krankenhaus.

„Atomunfälle in der ehemaligen Sowjetunion“, meint Otfried Nassauer, „werden sich wahrscheinlich in den nächsten Jahren noch häufen.“ Der Zerfall der Sowjetunion habe auch zu einem Zerfall der Versorgungsstrukturen zum Beispiel mit Ersatzteilen geführt. Zwar gebe es westliche Hilfsangebote, so habe das amerikanische Parlament 1991 und 1992 insgesamt 800 Mio. Dollar bereitgestellt. Ende vergangenen Jahres waren jedoch erst weniger als zwei Prozent dieser Summe vertraglich gebunden. Der Hintergrund: Heftig stritten sich beide Seiten, ob amerikanische oder russische Firmen die lukrativen Aufträge bekommen sollten und wieviel russische Geheimhaltung künftig angemessen sei. Annette Jensen

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