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■ Highgate Cemetry: Zu Besuch bei einem alten BekanntenRuhst du gut, Karl?

London (taz) – Ruhst du gut, Karl? Laß dich durch mich nicht stören. Da habe ich es also endlich geschafft, dich zu besuchen, und wir sind (abgesehen von deinen vielen NachbarInnen) ganz unter uns – hier, in aller Stille auf dem Highgate Cemetry am Fuße des bourgeoisen Londoner Stadtteils Hampstead, wo sie dir und deiner Familie ein ewiges Andenken gesetzt haben. Ewig – oh ich muß vorsichtig sein mit diesem Begriff, so oft hat es damit in letzter Zeit schon nicht hingehauen. Du weißt. Aber gerade darüber würde ich so gern mit dir reden, Karl. Ich werde den Verdacht nicht los, daß du dieses ganze Debakel vielleicht vorausgesehen hast, als du dich hier vor nunmehr 110 Jahren eingemietet hast. Wer mag noch an Zufall glauben, wenn er sieht, daß in Zeiten, in denen dein so furchtbar mißverstandenes Gedankengut in der ganze Welt zu Rauch verpufft, während es hier, ausgerechnet in dieser noblen Gegend, das Zentrum allen Geschehens ist? Ist es vielleicht reiner Zufall, daß du hier auf dem ausgewiesenen Ostflügel liegst? Und daß alle Wege und Trampelpfade unweigerlich zu dir führen? Nein, an dir kommt hier keiner vorbei.

Herrje Karl, dachte ich, als sich unsere Blicke nach der Links(!)biegung hinter dem Rauscheengel mit dem Palmenwedel zum ersten Mal trafen: Die feine Adresse stimmt, aber habe ich mich vielleicht in der Türe geirrt? Ein sozialistischer Plattenbau inmitten der Altstadt von Venedig hätte ähnliche Anforderungen an den Geschmackssinn gestellt, wie es dieser wuchtige, graue, glattgeschliffene Klotz hier so brutal zwischen all diesen verschnörkelten Kreuzen und fragilen schwebenden Engeln tut. Ich muß sagen, Karl, darauf war ich nicht gefaßt. Doch was kannst du schon dafür, daß ihnen in diesem wunderschönen Jugendstil-Friedhof eben nichts anderes einfiel, als deinen wehrlosen Körper unter diesem waschechten Monument sozialistischen Realismus zu begraben. Immerhin: deine Büste überblickt von hier aus den ganzen Friedhof, und alle müssen sie nun zu dir aufschauen. Und in dem Klotz, auf dem dein Kopf nun ruht, vereinen sich alle Erinnerungen an die Plaste-Elaste-Kultur, die nun auch tot sein soll. Doch nicht, solange du hier stehst und in den wenn auch dünnen, nüchternen, blattgoldenen Lettern noch immer einen Versuch startest: „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ Ich muß gestehn, Karl, es hat etwas Rührendes, dieses Bild, und erst recht mit den vertrockneten, dünnen Asternsträußchen, die dir irgendeine Juso-Gruppe aus dem Revier hier hingelegt hat...

Und wieder einmal zeigt sich: Wer zuletzt lacht... Als sie dich hier im März 1883 zu Grabe getragen haben, dachten so viele deiner Nachfolger, sie könnten dich mit deiner geklauten und gebeutelten Idee überleben. Jetzt bist du es doch, der sie alle überdauert. Wie oft, Karl, magst du dich dort unten schon umgedreht haben, in letzter Zeit?

Noch etwas würde ich gern wissen: War es eigentlich auch Zufall, daß du dir dein Exil gesucht hast, lange bevor es ein Exil war? Ich meine, vielleicht wäre es dir jetzt andernorts so ergangen wie all deinen versteinerten Kollegen, deren Köpfe jetzt überall rollen und den westlichen Planierraupen zum Opfer fallen. Dieser Ort hier wäre doch eigentlich prima geeignet, um ihnen allen Asyl zu gewähren. Was meinst du? Dann wärst du auch nicht mehr so allein. Aber was rede ich da bloß – du bist es ja gar nicht, im Schoß deiner Familie. Und schließlich haben sie dich hier ja auch in beste Gesellschaft gelegt. So ein richtiges Intellektuellen- Clübchen hat sich in deiner Ecke zusammengefunden. Der Club der toten Denker. Da ist der südafrikanische Sozialistenführer, der argentinische Bürgerrechtler, der arabische Autor, der iranische Journalist, der so jung für die Wahrheit mit seinem Leben zahlen mußte.

Wenn auch nicht so tragisch wie dieser Mann – zahlen mußten sie eigentlich alle für ihre Ideale. Stell dir vor, Karl: Auch ich mußte zahlen, um dich hier zu besuchen! Ein Pfund haben Sie mir abgeknöpft und dann gleich noch eins, als sie meine Kamera gesehen haben. Da hast du den Kapitalismus ja mal wieder vor der eigenen Haustür – ich meine direkt vorm Friedhofstor. Und es zeigt sich, daß sich selbst mit einem häßlichen grauen Klotz Kapital machen läßt, wenn nur der Richtige darunterliegt. Traurig macht das.

Wieviel milder stimmt da doch der flugbereite Gabriel, der dir gegenüber jeden Moment in den Himmel abheben will. Ein böses Omen, daß ihm ausgerechnet der linke Arm abgefallen ist? Das kann dir auf deinem grauen Klotz nicht passieren, mein Lieber. Ohnehin hättest du ja auch gar keinen Sinn für solchen schöngeistigen Schnickschnack gehabt – Opium, hättest du gesagt! Je länger ich darüber nachdenke, um so besser steht dir dieses Grab. Wenigstens kann es nicht schrumpfen, wie man das von den einbalsamierten Überresten deines Genossen Mao ja neuerdings behauptet! Hat schon alles seinen Sinn, so wie es ist, Karl. Braucht einfach manchmal eine Weile, bis sich zeigt warum, nicht wahr? Also abwarten.

Eine Sache will mir aber partout nicht aus dem Kopf: Es ist die Schreckensvision, daß auch dieser kompakte graue Klotz eines Tages entzweibrechen könnte. Was nur, wenn sich herausstellt, daß er innen hohl ist? Antje Passenheim

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