Vogelfrei am Gängelband

Leben im Wagendorf: Mobil wohnen und auf Konsum verzichten  ■ Von Heide Platen

Die elf Wagen, die hier „Wägen“ heißen, stehen im weiten Kreis. In der Mitte des Platzes ist ein kleines Zirkuszelt aufgebaut. Um den kugelrunden, bullernden Eisenofen hocken und stehen die Bewohner des Bauwagendorfes vom „Schnepfenbusch“. Im hessischen Nordosten hinter Bebra fällt an diesem Tag noch etwas Schnee und dämpft die Frühlingseuphorie der BewohnerInnen. Am Morgen hatten sie sich schon ins Freie zum Teetrinken herausgetraut, gegen Mittag stecken sie die Nasen lieber nur noch vorsichtig aus den Türen. Allein die Kinder toben über den Platz, und Eugen der Dorfhund inspiziert die Szenerie auf der Suche nach Streicheleinheiten.

Im Zelt wird das Fazit der Dorfgeschichte gezogen. Christa, gelernte Erzieherin, ist eine der „Veteraninnen“ und seit 1984 dabei. Angefangen hatte sie, als der Besitzer des Geländes zusammen mit seinen Brüdern den elterlichen Hof und Land erbte und ihnen Stellplätze gewährte. Streitereien mit den Verwandten, den Behörden und permanenter Geldmangel begleiteten das Projekt, das ursprünglich auch in landwirtschaftlicher Selbstversorgung funktionieren sollte. Die „Wagenleute“ zogen vom Hof auf das Gelände eines ehemaligen Sägewerks. Der Wiederaufbau des Holzbetriebes scheiterte, der Wegfall der Grenze machte das vorher abgelegene Gelände finanziell wieder interessant.

„Jetzt“, so Christa und ihre Freundin Sibylle, beide Mütter kleiner Kinder, „sollen wir hier Ende April weg.“ Eine Räumungsklage ist angestrengt. Daß sie sich im Lauf der Jahre mit dem Besitzer überworfen haben, scheint sie eher zu verwirren als zu empören: „Wir verstehen ihn ja, sind ihm auch nicht böse.“ Da seien einfach „unterschiedliche Interessen“ kollidiert. Die versöhnliche Haltung sei nicht Resignation, sondern „wesentlicher Bestandteil“ ihres Lebensentwurfes: „Nicht hassen, auch die anderen verstehen.“ Der Leidensdruck sei zwar groß, aber sie wollen auch nicht gegen den Besitzer „zu Platzbesetzern“ werden.

Nur, so richtig zur Ruhe gekommen ist das Dorf in den vergangenen zehn Jahren trotz dieser Sehnsucht nach universellem Frieden nie. Meistens haben die BewohnerInnen von der Hand in den Mund gelebt, in unübersehbarem Mangel. Der ist, wie in anderen Wagendörfern auch, nur zum Teil selbst gewählt, zum Teil den Widrigkeiten der äußeren Um- und Widerstände geschuldet. Und derer gibt es viele, weil ein Wagendorf eigentlich von keiner bestehenden Gesetzeslage richtig erfaßt, aber von vielen Regelungen tangiert wird. Da ist das den Aufenthalt zeitlich begrenzende Schaustellergesetz, sind die Vorschriften für „Bauten im Außenbereich“ von Gemeinden und solche gegen „illegales Wohnen“, fällige Bauamtsabnahmen, Auflagen für sanitäre Anlagen, Zulassungsbedingungen für Zugmaschinen und Anhänger, Kontrollen von Gesundheits- und Ordnungsamt und und und...

Ein Ausweg aus der Unsicherheit schien es zu sein, als den „Schnepfenbuschlern“ ein Gut in Thüringen angeboten wurde. Sie entwickelten ein aufwendiges Konzept mit Café, Kulturzentrum, Bioladen, Werkstätten und Studios. Daß die ganze Liebesmühe umsonst und das Projekt jenseits der öffentlichen Ausschreibung unter der Hand schon anderweitig vergeben war, merkten sie erst später: „Das war ein abgekartetes Spiel.“ Seit einem Jahr suchen die Wagendörfler nun nach einem neuen Standort, haben Makler konsultiert und Anzeigen aufgegeben, auch Kreditgeber gefunden, aber bisher keinen Platz.

Daß ein Bedarf für das mobile Leben in Wagen und Zelten da ist und nach der romantischen Blüte der alternativen Landflucht in den Indianer-Sommer der siebziger Jahre nie ganz verschwunden ist, wissen sie von vielen ähnlichen Gruppen. Und daß die Bauwagenromantik in den letzten Jahren wieder neu aufgelebt ist, liegt nicht nur an der Wohnungsnot. Rund vierzig Gruppen kommunizieren über die Loseblatt-Zeitschrift Vogelfrei miteinander. Sie schätzen die Zahl der „Wägler“ auf mittlerweile bis zu 10.000 Menschen. Die „Dorf-Chroniken“ sind bunt und oft nicht gerade ermutigend. In Hamburg ein Platzverkauf im Februar und eine Räumung im März, Vereinnahmungs- und Kontrollversuche der Ämter, behördlich verschuldete Überfüllung in Tübingen durch die Zwangszusammenlegung zweier Wagenburgen werden beklagt. Süddeutsche Gruppen, zur Zeit besonders repressionsgebeutelt, versuchen sich in einer Präambel, in der Ökologie und Gemeinsinn groß geschrieben werden.

Doch die kommunalen Behörden tun sich schwer mit den ungeliebten Gästen. Das Lob für Städte wie Lübeck und Frankfurt hat seine kleinen Stachel. Die Wagenkolonie an der Borsigallee in Frankfurt ist eigentlich mit dem Gelände unzufrieden, weil hier ein Autobahnzubringer gebaut werden soll und die Verträge nur befristet sind. Die selbst gewählten Standorte, zuerst auf dem Gelände der Bundesgartenschau, dann am Naherholungsgebiet Biegwald, mußten sie wieder verlassen. Die Kolonie nennt sich deshalb auch „Biegwald im Exil“. Solche Unsicherheiten, das berichten auch andere Gruppen, lähmen und tragen dazu bei, daß die Gemeinschaftsaufgaben nicht mehr so ernst genommen werden. Sie warnen vor „Frustration und Verslumung“. Dabei, so der Landesverband Baden-Württemberg, seien Wagen- Bewohner durchaus „flexibel und kompromißfähig“ für Zwischennutzungen, wenn nur von den Behörden der „Dialog gesucht“, nicht die Repressionskeule geschwungen werde.

Im Mai wollen sich zahlreiche Wagendörfler zu einer lang geplanten „Caravane“ treffen und bis August mit Artistik und Musik durch das Land ziehen. Dabei können auch Teilstrecken mitgefahren werden, Höchstgeschwindigkeit 20 Kilometer pro Stunde, inklusive Klo- und Küchenwagen. Aber, warnen die VeranstalterInnen, „laßt eure neurotischen, aggressiven oder schwindsüchtigen Hunde, Katzen und Frettchen zu Hause!“ Und: „Wir wollen versuchen, daß Vorurteile, zum Beispiel, daß fahrendes Volk immer klaut, abgebaut werden.“

Daß solche Bewegungen auch in anderen europäischen Ländern wieder stärker werden, wissen sie nicht nur von den Gästen aus aller Welt. In England erstreiten sich Caravans und Bauwagen-Leute das Recht auf Freizügigkeit seit einigen Jahren öffentlichkeitswirksam und „sehr viel radikaler“. Sie liefern sich Verfolgungsjagden mit der Polizei, organisieren illegale Treffen und Konzerte, deren Orte durch Flüsterpropaganda bekanntgegeben werden.

Die Beweggründe der einzelnen fürs alternative Wagenwohnen sind sehr unterschiedlich. Petra verdient sich ihr Geld als Artistin, tingelt im Sommer mit ihrem Partner von Platz zu Platz. Sie könne, sagt die schmale blonde Frau und stickt dabei auf ihren roten Wollpullover ein paar gelbe Muster, sich „gar nicht mehr vorstellen, wieder in einem festen Haus zu leben“. Das sei „aus Stein, kann nicht atmen, nicht rollen“, da könne sie sich nicht wohl fühlen, komme sich eingesperrt vor. Sabine sieht das für sich anders. Sie hätte gar nichts dagegen, auch in Gebäuden zu leben: „Ich brauche die Räder nicht unbedingt.“

Die selbstauferlegte Lebensphilosophie des Verzichts ist allen Wagenbewohnern wichtig. „Wir fallen dem Staat nicht zur Last“, meint Stephan, „Und darauf sind wir stolz.“ Niemand im Dorf lebe von Sozialhilfe. Geld wird auf unterschiedliche Weise verdient, durch gemeinsame Straßenmusik, Zirkus, Akrobatik, den Verkauf selbstgebauter Musikinstrumente, Kurse und Seminare. Drogen und Alkohol sind verpönt. Sibylle ist es vor allem wichtig, „die Nähe zur Natur, zum Wetter, zu den Jahreszeiten und den Elementen“ mehr zu spüren als anderswo. Ökologie wird großgeschrieben, Abfälle sollen vermieden werden. Das Wasser für den Hausgebrauch und den Badewagen kommt aus einer nahe gelegenen Quelle im Wald und wird vor allem „gespart“. Spülmittel gibt es nicht. Zwei der Wagen sind schon mit Sonnenkollektoren ausgestattet. Ferngesehen wird kaum, Radio gehört manchmal, Zeitungen kommen selten und fast nur gebraucht ins Dorf. Die Rezepte für umweltschonende Methoden werden erprobt und ausgetauscht. Daß es nicht unbedingt jedermanns Sache ist, die reinigende Wirkung von Urin beim Geschirrspülen zu erproben, steht auf einem anderen Blatt. Auch der Unterschied zwischen spartanisch sparsamer Lebensweise gegen die Wegwerfgesellschaft und der Sammelwut notorischer Schrottler und Autoschrauber ist konfliktträchtig. Eine Kindergruppe beschwert sich in Vogelfrei massiv gegen Erwachsene, die Zigarettenkippen in die Gegend werfen und die Öllachen ihrer Altautos nicht entsorgen.

Niemand aber, betonen die Wägler vom „Schnepfenbusch“, wolle sich „aus der Gesellschaft einfach ausklinken“. „Im Gegenteil“, sie versuchen, „vorbildlich für andere“ zu leben. Denn, so Stephan: „Es ist höchste Zeit für Veränderungen!“ Die Gruppenstrukturen sind natürlich nicht konfliktfrei, aber, meinen sie übereinstimmend, weniger „stressig“ als die von Wohngemeinschaften. Das „gemeinsame Wohnzimmer“ sei im Sommer draußen, aber es gebe durch die auf Abstand gestellten Wagen auch Möglichkeiten des Rückzuges für jeden. Die eigenen vier Holzwände lassen leidige Küchendiskussionen gar nicht erst aufkommen. Gemeinsame Feste, zusammen kochen, das regele sich freiwillig. Der Wagen, das ist auch „das eigene, gemütliche Nest“.

Das Wagendorf verpflichtet nicht zur unbedingten Standorttreue. Es ist Anlaufstelle für die, die gerade auf der Reise sind, und Sommeraufenthalt für jene, die im Winter „lieber in den Süden“ ziehen. Insgesamt ein „Konglomerat sehr verschiedener Menschen, Künstler, Handwerker, Erfinder“. Die Gemeinsamkeit von Weltanschauungen ist nicht gefragt, sondern der Austausch. Indienreisende, Indianerkenner, Tanztherapeutinnen, Freigeister, Pazifisten, Sonderlinge, „von allem etwas“, gehören zur „Rainbow Family“ der notorisch oder sporadisch Reisenden. Und das hört sich im Dialog auch so an. Sibylle: „Ein schönes Ganzes...“ Stephan: „...wenn es auch manchmal etwas verbogen ist. Manche sagen, wir sind hier lauter Schlappschwänze und Peacemaker.“ Christa findet: „Das ist hier eher eine Karawanserei als ein Dorf.“ Sie hat nach vielen Jahren Mobilität über ein Jahr wieder fest gearbeitet, als Erzieherin in Berlin. Dann aber ist sie doch wieder zurückgekommen, weil sie das „auf Dauer nicht ausgehalten hat“. Sie spricht für alle: „Wir haben das Hin und Her satt. Das ist ein leidiger Zustand wie auf einem Pulverfaß.“ Und: „Für uns ist es unbegreiflich, daß unsere Art des Lebens illegal sein soll.“ Jetzt hoffen sie darauf, bis zum Ende des Monats ein „vernünftiges Platzangebot“ zu bekommen. Am liebsten, und das kommt leicht träumerisch, wäre ihnen natürlich „absolute Alleinlage, feste Gemeinschaftsgebäude, zwei Quellen, Land für Tiere und Pflanzenhäuser“.