■ Die G-7 beschloß eine Mogelpackung für Rußland
: Die Moral der Kapitalisten

Die Regierungen der sieben reichsten Industriestaaten (G-7) haben die Quadratur des Kreises erneut vollbracht: Sie schnürten für Boris Jelzin gestern in Tokio ein Carepaket mit 50 Milliarden Dollar diverser Hilfskredite, das so gut wie nichts kosten wird. Derartige Kunststücke gelingen teils durch optimales Recycling alter Zusagen (allein zwölf Milliarden Dollar stammen aus dem 24-Milliarden-Dollar-Paket vom letzten Jahr) und teils von selbst: Die alten Sowjetschulden, derzeit 80 Milliarden Dollar, kann und will Rußland zur Zeit nicht bedienen, weshalb der Pariser Club der Gläubigerstaaten notgedrungen die Zins- und Tilgungsraten auf längere Zeiträume streckt. So entstehen buchungstechnisch neue Hilfsmilliarden (aktuell 15 Milliarden Dollar), und besonders Bundesfinanzminister Theo Waigel kann sich freuen: Der deutsche Hilfsanteil wird täglich größer, ohne daß Waigel aus der Staatskasse einen Pfennig fresh money zuzahlen muß.

In Rußland sind die westlichen Hilfspakete natürlich längst als Mogelpackungen enttarnt, weshalb die Jelzin-Regierung bisher nicht einmal alle ihr zustehenden Kredite vom russischen Weltbank-Konto abgeräumt hat. Westliche Ostexperten sind sich überdies einig, daß auch das Verschicken von echten Milliardenpaketen nach Rußland zur Zeit ohnehin wenig Sinn machen würde. Sie empfehlen, gemeinsam mit den Russen langfristige überschaubare Projekte zu entwickeln und diese westlicherseits per Know-how- Transfer und Experten-Austausch zu unterstützen.

Warum aber hält „der Westen“ so starr an seinem Ritual des Päckchen-Packens fest? Schließlich sollte es für die sieben reichsten Länder der Welt möglich sein, gutbezahlte Experten auch für mehrere Jahre nach Rußland zu entsenden, anstatt wie bisher lediglich den „Vier-Wochen-Moskau“-Beratungstourismus zu fördern. Die Untätigkeit der G-7 zwischen ihren Wirtschaftsgipfeln legt die Frage nahe, wie groß das Interesse der West-Regierungen an einem demokratisch-marktwirtschaftlich Reformprozeß in Rußland tatsächlich ist, seit deutlich wurde, daß dieser Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern wird.

De facto könnte der Westen, vergißt man kurz die Sonntagsreden über „die Bedeutung des russischen Reformprozesses für den Weltfrieden“, hervorragend mit einem rot-braunen Regime in Moskau leben. Dieses müßte nur die alt-sowjetische Westgrenze gegen Auswanderer zuverlässig abriegeln. Denn: Mit der atomaren Bedrohung sind die gleichen G-7-Regierungen bis 1989 durch Ignorieren und Aufrüsten durchaus gelassen fertig geworden. Als Ideologie ließ sich der Kapitalismus ebenfalls viel besser verkaufen, als es noch ein Reich des Bösen gab. Und das große Geschäft mit den 180 Millionen Menschen, von dem viele im Westen vor drei Jahren träumten, wird selbst bei günstigem Reformverlauf noch eine ganze Weile auf sich warten lassen.

Für den Weltfrieden und ein ernsthaftes Bemühen um bessere Lebensbedingungen für die Menschen in der früheren UdSSR spricht demgegenüber allein die Moral der demokratisch-kapitalistischen Sieger. Vermutlich fällt es darum der neuen US-Regierung leichter, neue Wege für „Investitionen in eine demokratische Zukunft“ (US-Außenminister Warren Christopher) zu finden, als Adenauers Enkeln aus dem Wirtschaftswunderland, die sich weiter in ihrer rhetorischen „Rußlandhilfe“ (Waigel) erschöpfen.

Zwar sind die 1,8 Milliarden Dollar, welche die US- Regierung als fresh money beim Kongreß beantragen will, für das reichste Land der Erde wahrlich kein großes Opfer. Neu ist aber die Qualität der US-Politik, sich gegenüber Rußland verbindlich auf klar definierte Projekte, wie etwa Privatisierung und atomare Abrüstung, festzulegen. Damit übernimmt sie als erste Westregierung immerhin punktuell Verantwortung für den Reformprozeß, einschließlich der Möglichkeit des Scheiterns. Vielleicht schafft es Clinton ja, daß seine G-7-Kollegen zum regulären Weltwirtschaftsgipfel im Juli endlich ohne Packpapier nach Tokio reisen. Donata Riedel