: Ortstermin im Warschauer Ghetto
■ Jaroslaw Marek Rymkiewicz betreibt literarische Spurensicherung
Das Gedächtnis zeichnet das Erinnerte in Raumbildern auf; Glück und Unglück haben ihre eigene Topographie: Traumhäuser, Elendswinkel, Seelenlandschaften, Schreckensplätze. Was ich weiß, muß sich mit einem Ort verbinden, um zur Erfahrung zu werden. Was ortlos wird, ist bald vergessen. Jaroslaw Marek Rymkiewicz hat ein Buch geschrieben, das ganz und gar der Rekonstruktion eines verschwundenen Ortes gewidmet ist. Es ist schwer, wenn nicht unmöglich, die rechten Worte für diesen Ort zu finden: Dem Umschlagplatz des Warschauer Ghettos, wo im Verlauf der Liquidierungsaktion im Jahr 1942 310.000 Menschen auf den Transport in den Tod warteten, ist mit drastischen Adjektiven nicht beizukommen. Literarisch-moralische Kraftmeierei vermag da gar nichts zu bewegen. Wer hier nicht scheitern will, muß sich seine Kräfte einteilen.
„Der Umschlagplatz“, schreibt Rymkiewicz, „existiert nicht mehr, geblieben sind nur mehr Worte, die ihn benennen.“ Statt sich mit den üblichen großen Gesten eines begreiflicherweise hilflosen Entsetzens („die Hölle von ...“) zu begnügen, betreibt Rymkiewicz Spurensicherung. Seine Erzählerfigur, keine verbergende Maske, sondern ein Teleskop, verzeichnet, was heute dort zu sehen ist, wo geschehen ist, was geschah. Da gibt es eine Tankstelle, einen Spielplatz und einen Geschäftspavillon aus blauem Wellblech: „In diesem Pavillon sind folgende Läden untergebracht: ein Laden mit Haushaltsartikeln – Teller und Waschpulver –, einer mit Galanteriewaren, eine Filiale von Ruch, mit Zigaretten und Zeitungen, ein Süßwarenladen namens Camargo und ein großes Selbstbedienungsgeschäft mit Lebensmitteln.“ Was anderswo als wackere Normalität erscheinen würde, wird hier zur Provokation: „Warum hat man diesen Pavillon hier errichtet? Warum schaukeln hier die Kinder auf dieser Schaukel? Das ist doch einer der wenigen oder vielleicht einer von einem Dutzend Plätzen auf der Welt, die man immer in Erinnerung bewahren wird. Thermopylen oder Verdun. So etwas in der Art. Es vergehen ein paar hundert Jahre, und alles wird in Vergessenheit geraten sein, nur der Umschlagplatz nicht.“
Juden, Deutsche und Polen verbindet dieser gespenstisch unsichtbare Ort in der Konstellation von Opfer, Täter und Zuschauer. Rymkiewicz nähert sich ihm mit einer Prosa an, die nur widerwillig von den Mitteln der literarischen Einbildungskraft Gebrauch macht. Das Resultat ist ein offenes, fragmentarisches Buch, in dem sich Erzählung, Essay und Dokumentation wechselseitig kontrollieren und ausgleichen. Es kommt gerade rechtzeitig, um dem Gedenken an den Aufstand im Warschauer Ghetto mit einer Topographie des Schreckens aufzuhelfen. Man sollte es lesen, denn „dieses abscheuliche Jahrhundert ist noch nicht zu Ende“. Jörg Lau
Jaroslaw Marek Rymkiewicz: „Umschlagplatz“. Aus dem Polnischen von Martin Pollack. Rowohlt Berlin, 335 Seiten, 38 DM
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