: Referenden stürzen Italien ins Politchaos
Acht Volksabstimmungen am Sonntag / Ursprünglich gegen die Machthaber gerichtet, werden sie nun zur neuen Hoffnung der Herrschenden / Perversion einer volksnahen Einrichtung ■ Aus Rom Werner Raith
Ein Lehrstück: Genau so hatten es sich die Verfassungsväter nicht vorgestellt. Ausgerechnet jene Einrichtung, die dem Volk eine besonders unmittelbare Einflußnahme auf die Politik ermöglichen sollte, das Referendum, droht das Land nun vollends ins politische Chaos zu stürzen. Ehemalige Befürworter der einzelnen Initiativen haben sich zu vehementen Gegnern der Anträge gewandelt, früher entschieden antiplebiszitär eingestellte Parteien sind glühende Befürworter geworden. Quer durch Parteien, Organisationen und Familien gehen die Risse, ob nun jene, die am 18. April auf den acht auszugebenden Stimmzetteln mit Si stimmen, ein neues, sauberes System einleiten, oder jene, die No sagen. Die Referenden werden genau jenen Volkswillen, dessen Ausdruck sie sein sollen, unkenntlich und unbeschränkt manipulierbar machen.
Als 1947 in der Costituente, der Verfassunggebenden Versammlung, die „Frage plebiszitärer Elemente in der repräsentativen Demokratie“ beraten wurde, herrschte Einigkeit: Referenden müssen sein, als Ventile bei allzu großer Unzufriedenheit mit den Herrschenden und um demokratische Kontrolle auch außerhalb der gewählten Institutionen zu installieren. So ganz wollte man es der vorzuschreibenden Antragsminderheit (heute: 500.000 Wahlberechtigte) aber auch nicht überlassen, die Politik direkt zu bestimmen – leidvolle historische Erfahrungen wie die aus der Weimarer Republik galten als Warnung. So verfiel man auf einen Kompromiß, der sich für fast ein halbes Jahrhundert als recht tragfähig und durchaus auch effektiv erwies: die Einführung des „abrogativen“ Referendums. Gegenstand von Volksbefragungen darf nur die Abschaffung geltender Gesetze sein, nicht der Vorschlag neuer Normen. Ausgeschlossen sind zudem Steuer- und Haushaltsgesetze, Amnestien und die Ratifizierung internationaler Verträge. Das Ganze schien ein guter Weg zwischen der wählerermüdenden Dauerbefragerei Marke Schweiz und der seinerzeit anlaufenden plebiszitmuffeligen Diskussion in Westdeutschland.
Italiens Parteien und viele außerparlamentarische Gruppen haben sich die Einrichtung des abrogativen Referendums weidlich zunutze gemacht. Es ging um Ehescheidung und Abtreibung, um die Abschaltung von Atomkraftwerken und die zivilrechtliche Verantwortlichkeit nachlässiger Richter oder machthungriger Staatsanwälte. Doch mit der jetzigen Referendumsrunde könnten nicht nur die Einrichtung des Referendums ad absurdum geführt, sondern auch noch die Reste politischer Hoffnungen im weidlich gebeutelten Südstaat zerstört werden.
Formal geht es bei den acht Fragen um die Abschaffung des bisherigen Wahlgesetzes für die zweite Kammer des Parlaments (den Senat), um die Entkriminalisierung Drogensüchtiger, die Auflösung von nicht weniger als drei Ministerien (Tourismus, Landwirtschaft, Staatsbeteiligungen), die Wegverlagerung von Umweltfragen aus den örtlichen Gesundheitsämtern und die Beseitigung des Ernennungsprivilegs der Regierung für die Leitung staatlicher Banken. Einen Antrag über die Direktwahl des Bürgermeisters hat das oberste Gericht mittlerweile annulliert, weil es das Parlament in letzter Minute noch geschafft hat, einen Gesetzentwurf zu verabschieden, der nach Ansicht der Oberrichter dem Anliegen der Referendumspromoter hinreichend entspricht.
Was die Referendumsbefürworter aber bestreiten – und da kommt man zu einem der zentralen Punkte. Denn es gibt zwar bei jedem Referendum zahllose „Befürworter“, doch was dann an Stelle des jeweiligen Gesetzes treten soll, ist oft heiß umstritten und muß überdies von jenen formuliert werden, deren Werk man soeben abgeschafft hat. Im Falle der Direktwahl des Bürgermeisters sahen es die Oberrichter als ausreichend an, daß derlei Norm für Gemeinden bis zu 15.000 Einwohner eingeführt wird. Die Referendumsbefürworter wollten sie dagegen auf alle Städte ausgedehnt sehen und fühlen sich düpiert.
Die größten Irritationen bietet jedoch ein anderes Referendum: das zum Wahlgesetz für den Senat. Es soll das derzeit geltende Verhältniswahlrecht annullieren; was aber an seine Stelle treten soll, darüber streiten alle mit allen. Und doch erhoffen sich all jene, die da streiten, von der künftigen Lösung das Allheilmittel für die tödliche Krise, in der das Land steckt.
Vor zwei Jahren, als das Ganze begann, schien alles noch sonnenklar. Da hatte gerade eine Initiative quer durch die politische Landschaft gegen den Willen der Vierparteienkoalition (Christ- und Sozialdemokraten, Sozialisten und Liberale) ein wesentliches Element des damals geltenden Wahlgesetzes für die Abgeordnetenkammer ausgehebelt: die Möglichkeit, bis zu vier Stimmen auf ein und derselben Liste anzukreuzen. Damit fiel die bis dahin übliche Bildung sogenannter „Seilschaften“ um hochrangige Parteifürsten – ein Eckstein des demokratiezerstörenden Klientelwesens. Erstmals seit Kriegsende erlitt das Macht- Establishment eine empfindliche Niederlage.
Da wollte man weitergehen und über ein erneutes Referendum nun die Frage des Wahlrechts insgesamt zum Hebel für die Neuformierung der politischen Klasse vorantreiben: Können sich die Dunkelmänner und Filzokraten nicht mehr über gesicherte Listenplätze ins Parlament schmuggeln, so die Überlegungen, sondern müssen sich beispielsweise gemäß einem Mehrheitswahlrecht jeweils persönlich in einem Wahlkreis stellen, so wird das Volk schon die lauteren Kandidaten wählen.
Daß bei einem solchem Wahlrecht kleinere Formationen überhaupt keine Chance haben, fiel vielen der Referendumsfans im Eifer der Aushebelungskampagne zunächst nicht auf. Jetzt ist besonders bei ihnen der Katzenjammer groß– und viele springen, zum Entsetzen ihres Fußvolks, behende von ihrer eigenen Kampagne wieder ab. Umgekehrt gefällt gerade jenen Parteien, die bisher ganz und gar gegen das Mehrheitswahlrecht waren, die Sache immer besser, sind sie doch sicher, selbst mit geschrumpftem Wählerstamm noch die relative Mehrheit für ihre Kandidaten zu sichern. So die Christdemokraten und überwiegend auch die größte Oppositionsgruppe PDS, die aus den Kommunisten hervorgegangen ist.
Absurdität in der Absurdität: Gerade nachdem die Democrazia Cristiana ihr Ja zum Referendum kundtat, trat der „Vater“ der ganzen Referendumsbewegung und größte Si-Propagandist, Mario Segni, aus der Partei aus – mit der Begründung, diese Partei sei unreformierbar. Da soll einer noch durchblicken.
Natürlich: Seit Einleitung der Referenden vor eineinhalb Jahren ist unendlich viel im Lande passiert– die Staatsanwälte haben nahezu das gesamte bisherige Macht- und Management-Establishment des Landes mit Ermittlungsverfahren überzogen, bei Wahlen sinken die bisherigen Regierungsparteien auf weniger als zwei Drittel ihrer bisherigen Stimmenzahl ab. Man braucht im Grunde das Referendum gegen das einstige Fort der Altparteien nicht mehr.
Doch abgehalten werden muß es nun, und es wird immer deutlicher zur Renaissance-Hoffnung der bisher Herrschenden. Einerseits, weil die vormaligen Referendumsbefürworter ihre Kehrtwendung nur mit halsbrecherischen Vorwänden schaffen. Andererseits ist dem Machterhaltungsverein in Rom klar, daß ein Sieg des No zumindest nach außen als Volkswunsch nach Aufrechterhaltung des Status quo (und damit ihres Regimes) gedeutet werden kann, ein Si aber vor allem die uneinige Opposition schwächen wird, die eben nur im abrogativen, nicht aber im propositiven Bereich zusammengefunden hat.
Alles also Schuld der Einschränkung auf abrogative Referenden? Kaum. Gäbe es daneben das Recht auf Gesetzesvorschläge aus Volkes Mitte, müßten die Italiener jetzt statt über acht Fragen über mehr als hundertfünfzig abstimmen – so viele Alternativvorschläge sind nämlich als Ersatz für die jeweils geltenden Gesetze in der Diskussion. Nicht das Referendum als solches erweist sich in Italien als unheilstiftend – dazu hat es schon zu viele positive Ergebnisse gebracht. Vielmehr zeigt sich, daß bestimmte historische Umstände und ein unvorsichtiger Gebrauch auch die besten Verfassungsklauseln und -rechte ad absurdum führen können.
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