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Rote Nelken und Paragraphenpingpong

■ Gestern begann in Dresden der Wahlfälscherprozeß gegen das Mitglied des Bundestags Hans Modrow (PDS) und drei Ex-Genossen

Dresden (taz) –Der siebenundsechzigjährige Reinhard Stuck wartet an der Straßenbahnhaltestelle. Aus seiner Reisetasche leuchten rote Nelken. Frühmorgens ist er in Hoyerswerda aufgebrochen. Die Blumen hat er für Hans Modrow mitgebracht. „Weil es um meinen Freund geht, um meinen Parteifreund“, ist er nach Dresden gefahren, zum Prozeß. Eine Anklage wegen Wahlfälschung sei „heute doch überhaupt nicht mehr relevant. Da sollen erstmal die vor Gericht, die in den letzten drei Jahren mehr verbrochen haben als in den vierzig Jahren zuvor.“

Mit dem PDS-Genossen sind Hunderte gekommen, aus Hoyerswerda, aus Dresden, aus Berlin, aus anderen Städten. Ihren Ehrenvorsitzenden begrüßen sie vor dem Portal des Justizgebäudes mit Nelken und mit Hochrufen. Transparente fordern: „Hände weg von Modrow!“ und „Kopf hoch. Nicht die Hände!“ Der erste DDR-Ministerpräsident nach dem Fall der Mauer wird von der Menge umschlossen, es sieht aus, als wollten die Leute mit den Blumen ihn doch noch daran hindern, den Ort des „politischen Prozesses“ zu betreten.

Nur knapp fünfzig ZuhörerInnen dürfen in den Verhandlungssaal. Sie werden nach der Taschenkontrolle durch ein Nadelöhr zum Eingang dirigiert, müssen dort ihre Pässe zum Kopieren vorlegen. „Zur Identifikation von eventuellen Störern.“

Neben dem PDS-Bundestagsabgeordneten sitzen im zweiten Dresdner Wahlfälschungsprozeß drei, wie sie sagen, „Rentner“ auf der Anklagebank, die bis zum Herbst 1989 im engsten Umfeld des Bezirksvorsitzenden der SED gewirkt haben. Lothar Stammnitz war 2. Sekretär der Dresdner SED- Bezirksleitung, Siegfried Neubert fungierte als Sekretär, Günther Witteck Vorsitzender des Rates des Bezirkes. Im ersten Prozeß hatten sich für die Fälschung der Ergebnisse der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 der damalige Oberbürgermeister von Dresden, Wolfgang Berghofer und der Stadtparteichef Werner Moke verantworten müssen. Beide Spitzenfunktionäre waren auf Bewährung und zu Geldstrafen verurteilt worden. Die Urteile sind inzwischen vom Bundesgerichtshof bestätigt worden und harren nun in Karlsruhe einer erneuten Überprüfung.

Erwartungsgemäß steuert auch die Eröffnung der Hauptverhandlung vor der 3. Strafkammer des Landgerichtes Dresden gerade zu auf die juristischen Klippen der Verfolgung von DDR-Unrecht. Honecker gießt in Chile Blümchen – Modrow, mit dem zweifellos viele DDR-Bürger schon vor dem Herbst 1989 Erwartungen auf Perestroika und nach dem Sturz der Politbürokratie auf eine DDR-Alternative verbunden hatten, er soll vor den Richter. Die „späte Rache“ der SED-Betonköpfe am „Hoffnungsträger“, von der SPD- Politiker Egon Bahr im Neuen Deutschland gesprochen hat, sie ist auch ein Grund für den Zorn der Besucher mit den roten Nelken.

Der Vorsitzende Richter Rainer Lips kommt vorerst nicht sehr weit mit seinem Programm. Noch bevor sich die vier Angeklagten zu ihren Biographien äußern können, beantragt Rechtsanwältin Suzan S. Leski im Namen der Verteidigung die Einstellung oder, „hilfsweise“, Aussetzung des Verfahrens. „Zum Zeitpunkt der angeblichen Tat“, begründete sie den Vorstoß, „haben die in der Anklageschrift herangezerrten Rechtsvorschriften der 107 ff StGB innerhalb des Staatsgebietes der DDR keinerlei Rechtswirkung entfaltet.“ Seit Inkrafttreten des Einigungsvertrages sei eine Bestrafung von Fälschungen der DDR-Wahlen ausgeschlossen, da das „Rechtsgut Wahl zu einer Volksvertretung des sozialistischen Staates“ DDR wegen „Erlöschens des Staates“ mit dem Beitritt „ersatzlos weggefallen“ ist. Andernfalls müsse eine „Äquivalenz zwischen den geschützten Rechtsgütern“ in beiden Geltungsbereichen „zum Zeitpunkt der Tatbegehung“ bestanden haben.

Die Verteidigerin folgt im wesentlichen der Argumentation, mit der schon Berghofer-Verteidiger Otto Schily auf Freispruch plädiert hatte. Das wird ihr prompt vom Staatsanwalt Ulrich Meinerzhagen, zuständig für Regierungskriminalität, vorgeworfen. Er hält am Urteilsspruch des Bundesgerichtshofes fest. Die Strafbarkeit der Tat sei durch die Rechtsänderungen nicht entfallen. Auch das Wahlrecht der DDR habe WählerInnen die Möglichkeit eingeräumt, „Mißfallen zum Ausdruck zu bringen“. Es gebe, schließt der Staatsanwalt, „keine begründeten Zweifel an der Verfassungsrechtmäßigkeit des Verfahrens“.

Ein juristischer Streit, der sehr wahrscheinlich erst in Karlsruhe, sogar vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof enden wird. Auch von der Verteidigung wird der Vorwurf erhoben, hier handle es sich um einen politischen Prozeß. Meinerzhagen räumt ebenfalls ein, daß dieses Verfahren „in verschiedener Hinsicht“ als politisch bezeichnet werden könne. Eine „dankenswerte Erkenntnis“, wie die Verteidigung kontert.

Nach einer mehrstündigen Beratungspause teilt Richter Lips den Beschluß der Kammer mit. Er hält sich mit Bedacht aus dem Pingpong der Verfahrensseiten heraus und zieht lediglich formale Gründe für die Ablehnung des Antrages des Verteidigung heran. Treffen deren Argumente zu, müßte die Hauptverhandlung mit Freispruch enden. Für eine Einstellung der Hauptverhandlung sei dagegen „kein Raum“ mehr.

Modrows Verteidiger holt nun auch Formfehler aus der Hinterhand. Die Anklageschrift, erklärt Friedrich Wolff, erfülle nicht die juristischen Mindestanforderungen. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Detlef Krell

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