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Ein feuchter Knallfrosch Von Ralf Sotscheck

Es ist immer wieder verblüffend, wie leicht ein einziges Wort das britische Parlament in ein Tollhaus verwandeln kann: Europa. Während Premierminister John Major und sein Kabinett jedesmal die Luft anhalten, sobald die belgische Hauptstadt erwähnt wird, wetzen die Tory-Hinterbänkler das Messer. Dabei kommt es zu perversen Koalitionen: ausgerechnet der rechte Tory-Flügel macht mit den linken Labour-Abgeordneten gemeisame Sache und tritt für Großbritanniens Unterzeichnung der Sozialcharta ein. Für einen Moment sah es so aus, als ob die Rebellion Erfolg haben könnte. Dann entdeckte Major, der für diesen Fall seinen Rücktritt versprochen hatte, ein Schlupfloch: die Debatte über die Sozialcharta kann völlig legal verzögert werden, bis die Maastrichter Verträge ratifiziert sind. Die Labour Party schäumte, als ein Tory-Minister obendrein noch spottete: „Die sogenannte Labour-Zeitbombe ist nichts weiter als ein feuchter Knallfrosch.“

Nachdem die Schlacht an der Heimatfront verloren scheint, kämpfen die Tory-Dumpfbeutel nun in der Höhle des Löwen um den „British Way of Life“. Und der hängt offenbar eng mit künstlichem Farbstoff in Lebensmitteln zusammen. Wie sollen die Verbraucher denn in Zukunft Rindswürstchen von ihren schweinischen Artgenossen unterscheiden, wenn sie nicht mehr wie bisher durch den rosa Farbstoff Erythrosin kenntlich gemacht werden dürfen, fragte ein entsetzter Tory, wurde vorübergehend jedoch durch den Hinweis beruhigt, daß die meisten Wurstesser lesen können. Nicht mehr zu beruhigen waren die Torys allerdings, als es dem „Rock“ an den Kragen gehen sollte. Das ist eine Stange aus Zuckermasse, die mit allerlei Chemikalien angereichert ist und besonders in den englischen Badeorten als Souvenir verkauft wird. Da die Sondermüll-Stange, der ein Hauch von Pfefferminz das Image einer Süßigkeit verleihen soll, selbst für Kinder schwer verdaulich ist, endet das Souvenir daheim meist in einer Schublade. Wer jedoch gesundheitliche Risiken nicht scheut und ein Stück von der chemischen Keule abbeißt, erlebt eine Überraschung: durch das Innere der Stange zieht sich – dank Erythrosin – in leuchtenden Buchstaben der Name der Stadt, in der die Scheußlichkeit erstanden wurde. „Unsere Väter, unsere Großväter und sogar unsere Urgroßväter haben sich ihre Ferien an der See mit diesem saftigen und knackigen Souvenir verschönert“, behauptete der Tory- Abgeordnete Michael Welsh aus Lancashire. „Doch wenn es nach der Europäischen Kommission geht, wird diese besonders leuchtende rosa Farbe nicht mehr länger erlaubt sein.“ Die Lebensmittelexpertin der Torys, Caroline Jackson, pflichtete ihm bei: „Andere EG-Mitgliedsstaaten benutzen nicht soviele Farbstoffe, weil ihre Lebensmittelindustrie nicht so fortschrittlich ist wie unsere.“ Schuld daran ist zweifellos der Einfluß der Linken. „Ich habe die sozialistische Zukunft gesehen“, orakelte sie, „sie ist grau.“ Für die Abgeordneten der anderen EG- Länder war Jacksons seniles Geschwätz der Beweis, wohin der übermäßige Genuß von „Rock“ führen kann – der britisch-europäische Erythrosin-Krieg ist kaum noch zu vermeiden.

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