: „Ich halte mich an Immanuel Kant“
Horst-Eberhard Richter, Psychoanalytiker und politisch engagierter Intellektueller, wird heute 70 ■ Ein Portrait von Bascha Mika
Es gibt Menschen, die haben ein Gewissen. So wie andere rote Haare haben oder eine spitze Nase. Doch mit dem Gewissen ist das so eine Sache: Es kann unbequem werden. Und dann machen die, die es spüren, befremdende Dinge. Sie sagen zum Beispiel jahrelang und immer wieder dasselbe – auch wenn es schon niemand mehr hören will. Sie sagen es trotzdem – weil sie glauben, daß es die Wahrheit ist, die gesagt werden muß. Als „Moralisten“ schmäht man so jemand oder als „Unvermeidlichen“ im Sinne eines unausrottbaren Übels. Wer schlichter höhnt, sagt einfach: „ein guter Mensch“ und meint: „ein auslaufendes Modell“.
Es gibt Leute, die würden Horst-Eberhard Richter gerne als solches Modell betrachten. Ihm zum Geburtstag bescheinigen: „Siebzig Jahre, ein bißchen weise und doch nichts dazugelernt“. Ein Träumer. Doch der Mann mit den scharfen Falten im Gesicht und dem weißen Schopf obenauf ist kein Träumer, sondern ein Täter – aus Überzeugung und innerem Zwang. Einer, der sein Ziel mit der Härte der Sanften verfolgt. „Ich habe mich immer für viel zu dünnhäutig gehalten, um zu kämpfen“, erzählt er. Aber er tut es, ist seit Jahrzehnten das (schlechte) „Gewissen der Deutschen“, Mahner und Warner auf der politischen Bühne. Zusammen mit seiner Frau Bergrun, die ihn „sehr, sehr gestärkt hat, den Mund aufzumachen“.
Das fängt irgendwann nach dem Kriege an. Der Artillerist Richter ist durch Glück und eine schwere Krankheit dem Gemetzel vor Stalingrad entgangen. Keinen seiner Kameraden sieht er je wieder, die meisten Freunde sind umgekommen, seine Eltern wurden von marodierenden Soldaten ermordet. Als „radikale, innere Katastrophe“ beschreibt er sein damaliges Gefühl. Er hatte mitgemacht, er war schuldig. Lieber wäre er auf der Seite der Verfolgten gewesen. So „borgt“ er sich die Biographie einer verfolgten Familie – die seiner Frau – und beginnt, ein „Gegengewicht zu dem Kollektivismus und Militarismus“ der Nazizeit zu suchen. Er ist Anfang zwanzig und will, „stellvertretend für die Umgekommenen, sich nie wieder angepaßt verhalten“.
Er hat diese Geschichte schon oft erzählt. Trotzdem, sie fließt nicht einfach so heraus, sie bahnt sich langsam ihren Weg. Da fühlt einer nach, was er redet, und währenddessen laufen seine Augen weg vom Gegenüber und suchen das Weite. Graubraune Augen, leicht verwaschen vom Alter.
Von 1943 bis 1949 studiert der zierliche Mann, der bei öffentlichen Auftritten so viel größer wirkt, als er tatsächlich ist, Medizin, Philosophie und Psychologie. Er promoviert zum Dr. phil. und Dr. med., fängt 1950 mit seiner psychoanalytischen Ausbildung an. Die Herrenmenschenideologie der Nazis, die bleibende „Beschädigung“, die er und seine Frau – auf anderer Ebene – im Krieg davongetragen haben, lassen beide besonders sensibel werden für das „beschädigte Leben“. Er in seinem Beruf als Arzt, Psychiater und Therapeut, sie als Lehrerin. Sie arbeiten mit den Schwachen und Benachteiligten, mit den psychisch Kranken und den sozial Deklassierten.
Auch privat lebt das Paar mit den Zeichen des Krieges. In Berlin, Richters Geburtsstadt, wohnen die beiden noch in den 50er Jahren in einem Haus, das nur als Hälfte besteht. Bombenschaden. Die Arbeit in Gießen, die Horst-Eberhard Richter in den sechziger Jahren beginnt, zieht er einem Ruf nach Heidelberg vor – weil Heidelberg so eine Zuckerbäckerstadt ist und Gießen vom Krieg schwer zerstört.
Wer Richter zuhört, dieser milden Stimme mit dem melancholischen Klang, diesen weitschweifigen, assoziierenden Ausführungen, kann seine therapeutischen Qualitäten erahnen. Wer leidet, spürt sehr schnell, ob er einen Leidensgenossen vor sich hat. Richter fühlt sich „sehr nahe, wenn Menschen depressive Situationen verarbeiten müssen“. Er hat selbst seine depressiven Anteile. „Aber ich habe gute Abwehrmechanismen, mit meiner Depression umzugehen“, sagt er, nestelt mit einer häufigen, leicht unsicher wirkenden Geste an seinen Fingern und läßt merken, daß er darüber nicht länger reden will.
Er bewertet nicht und gibt keine Ratschläge, er bleibt im ungefähren und überläßt die letzte Entscheidung dem Betrachter. Jedenfalls glaubt der das. „Du hast eine ganz gemeine Art, dich durchzusetzen“, hat ihm mal eine Kollegin vorgeworfen, „wenn es nicht nach deiner Nase geht, kannst du so traurig gucken, daß du einen doch wieder rumkriegst.“
Seine Wesensmerkmale und seine Überzeugungsstrategien haben Richter von seiten der „Macher“, von denen, die immer klare Rezepte parat haben, den Ruf der Weinerlichkeit eingetragen. Mit diesem Vorwurf kann er leben. Bedrückende Zustände, wie das vergebliche Anrennen gegen den Militarismus, würden ihn zwar sehr mitnehmen, aber wegen solcher Kritik habe er „noch keine Nacht schlechter geschlafen. Ich bin da stabil und definiere mich nicht über andere. Ich weiß schon, wer ich bin“, meint er und lächelt sogar ein bißchen.
In den vierziger und fünfziger Jahren, als angehender Psychosomatiker und Psychoanalytiker in Berlin, macht er eine Menge häßlicher Erfahrungen. Unmenschliche Klinikbetriebe, in den Köpfen der Ärzte betonierte Hierarchien, brutale Ausgrenzungen von mißliebigen Meinungen unter Analytikern. Seine Pionierarbeit in der psychoanalytischen Familientherapie – als erster im deutschen Sprachraum hat er versucht, neben unbewußten Wirkungen frühkindlicher Erfahrungen auch das soziale und kulturelle Umfeld des Patienten zu berücksichtigen – sollte seine Habilitationsschrift werden.
Sie liegt jahrelang bei seinem Professor im Schreibtisch. Als er 1962 auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Psychosomatik nach Gießen berufen wird – „das war ein reiner Glücksfall“ –, hat er sich immer noch nicht habilitiert. Und wird es auch nicht mehr tun. Lieber gibt er seine berühmt gewordene Schrift „Eltern, Kind und Neurose“ als Buch heraus. Später werden noch viele Bücher folgen.
In Gießen baut er, der selbst einige schwere Psychosomatosen durchgestanden hat, das Zentrum für psychosomatische Medizin auf. Er probt, vom autoritären Führungsstil wegzukommen und Teamarbeit zu installieren. Das gelingt nicht immer und macht ihm vor allem nicht nur Freunde. Auch sein Ansatz einer psychoanalytischen Sozialpsychologie wird in konservativen Kollegenkreisen mit Vorliebe kritisiert.
Seine Frau hat schweren Herzens ihre Arbeit in Berlin aufgegeben, ist ihm mit den drei Kindern nur ungern gefolgt. Und entgeht doch nicht dem Schicksal, Ehefrau eines prominenten Mannes zu sein. „Der Mann wird versetzt, die Frau bleibt sitzen“, zitiert Richter einen bekannten Spruch, der auch auf seine Ehe zutraf. „Sie hat sich nur schwer zurückgenommen. Das gab eine ziemliche Krise in unserer Beziehung. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis wir wieder in dieselbe Richtung dachten.“
Durch die 68er-Bewegung politisiert, entwickelt sich Richter im Laufe der siebziger Jahre zu dem, was er heute noch ist: ein kritischer Intellektueller, der die zerstörerischen Potentiale der Realpolitik anprangert. Anfang der achtziger Jahre wird er zu einer der Leitfiguren der Friedensbewegung und zum Mitbegründer der „Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs“, redet international den Verantwortlichen ins Gewissen. „Bis heute“, findet er, „werde ich überschätzt, was meine Kraft und moralische Qualität angeht. Ich fühle mich davon oft überfordert. Aber man muß damit leben und sich selbst nicht mit diesem Bild verwechseln.“
Doch wer in der Öffentlichkeit so hochstilisiert worden ist wie er, lebt stets in der Gefahr, auch wieder öffentlich gestürzt zu werden. Besonders ehemalige Linke, die sich längst frustriert der visionslosen Sachzwangpolitik gebeugt haben und mit den Mächtigen heulen, toben an ihm ihre Resignation und ihre Vatermordgelüste aus.
Richter selbst war nicht mehr jung, als er zum Protestler wurde. Deshalb brauchte er keine politische Kehrtwende, um sich erwachsen zu fühlen. Im Gegensatz zu den abtrünnigen Linken glaubt er bis heute, daß es in der Gesellschaft ein Widerstandspotential gegen den Selbstvernichtungswahn durch Umweltzerstörung und Großmachtpolitik gibt, das man nur mobilisieren müsse: „Vor allem bei den ganz Jungen. Es fehlt nur die Kraft, sie politisch zu konsolidieren.“
Dieser Analytiker, dem in seinen therapeutischen Sitzungen wenig Emotionen fremd geblieben sind, reagiert gespalten, wenn es um eigene Gefühle geht. Über den einen Teil, den politisch-gesellschaftlichen, bei dem er sich als Spiegel von kollektiven Ängsten und Bedürfnissen versteht, spricht er ganz offen. Über den anderen Teil, den ganz privaten und intimen, nur mit Scheu. Er wehrt nicht ab, gibt immer eine Antwort und bleibt doch vorsichtig und verhalten.
Ist er ein Machtmensch? „Na ja, natürlich hab' ich eine gewisse Macht“, bemerkt er nur und klingt bescheiden. Aber das sei mehr die „informelle Macht“, immer wieder auf das, was das Leben und die Zukunft der Menschen bedrohe, hinweisen zu können.
Ist er eitel? „Na ja, vielleicht eher im infantilen Bereich. Wenn ich körperlich was geschafft hab'.“ Vor allem seine Mutter habe immer gewollt, daß er etwas Besonderes sei, und habe seinen Ehrgeiz angestachelt. Und dann berichtet der kleine, siebzigjährige Junge, der Tennis spielt, Ski läuft und Berge besteigt, ganz stolz, daß er im letzten Jahr den Kilimandscharo erklommen hat. Wesentlich Jüngere hätten bei dieser Fünf- Tage-Tour schlapp gemacht.
Denkt er an seinen Tod? „Angst und Tod hab' ich stärker als junger Mensch erlebt. Ich habe allerdings die ausgeprägte Neigung, mich in der Therapie mit unheilbar Kranken zu befassen und mich so mit dem Tod zu konfrontieren.“ Doch dann will der alte Mann schnell wieder über das Leben reden. Wie fit er sich noch fühlt, daß er sportlich genauso gut dabei ist wie vor zehn Jahren und daß er mit dazu beitragen will, daß die Generation der jetzigen Kinder sich nicht in „Verdrängung und Anpassung“ drücken läßt.
Seit 1991 ist er emeritiert, doch sein Stundenplan ist nach wie vor voll. Er hält Vorträge, schreibt Bücher und arbeitet weiter therapeutisch. „Gar keine Therapie mehr, das würde mir wehtun. Ohne diesen Teil meiner Arbeit ist mein politisches Engagement nicht zu verstehen.“
Bis vor kurzem war er nur kommissarischer Chef des berühmten „Sigmund- Freud-Instituts“ in Frankfurt am Main. Jetzt übernimmt er für zwei Jahre die feste Leitung. Als er der Universität den Rücken kehrte, fing er an, sich über die Lebensführung im Alter Gedanken zu machen. Er sah nach, was der Philosoph Immanuel Kant und sein Zeitgenosse Christoph Hufeland, der Ahnvater der Psychosomatik, empfahlen. Hufeland propagierte Rückzug in Ruhe und viel Schonung; Kant hingegen beharrte darauf, daß gerade das Alter nicht zum Ausruhen bestimmt sei; Ruhe und Schonung beschleunigten nur den Alterungsprozeß. Richter: „Sollte ich Hufeland oder Kant folgen? Ich habe nachgesehen, wer von beiden länger gelebt hat. Das war eindeutig Kant. Also habe ich beschlossen, mich an ihn zu halten.“
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