■ Der jetzige Tarifkonflikt ist von prinzipieller Bedeutung
: Pacta sunt servanda

Wer erinnert sich nicht an die stets lateinisch gesprochenen Mahnungen von Franz Josef Strauß, daß einmal abgeschlossene Verträge einzuhalten sind, wenn heute auch von einzelnen prominenten christdemokratischen Politikern über einen eklatanten Vertragsbruch, der das soziale Klima in unserm Land über Nacht vereisen ließ, Unverständnis und sogar Empörung geäußert werden? Was im Sinne verläßlicher Außenpolitik aber einmal konsensfähig war, ist es heute in der in ihrem innersten Kern durch Krisen und Unsicherheit geschüttelten Bundesrepublik ganz offensichtlich nicht mehr.

Statt darauf das ganze Gewicht demokratischer Wachsamkeit zu legen, was an Glaubwürdigkeit und Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit mit solchen Willkürakten den Bach hinunterzugehen droht, statt zur Verteidigung des Tarifsystems die Verläßlichkeit der Tarifverträge zur ersten Voraussetzung zu erklären, wird versucht, von diesem prinzipiellen Charakter abzulenken und um Verständnis dafür zu werben, daß die vereinbarte Lohnanpassung von den ostdeutschen Metall- und Elektrobetrieben nicht zu leisten sei. Just in diesem Augenblick praktizierter Deregulierung, die zu Lasten der Lohnabhängigen geht, erklärt der Bundespräsident in seiner Rede zur Eröffnung der Hannover Messe Deregulierung als das dringende Erfordernis und entscheidende Mittel, um der deutschen Wirtschaft weiterhin Wettbewerbsfähigkeit am Weltmarkt zu garantieren. Die Verantwortung für das bei diesen Gelegenheiten immer zitierte - und immer in aller Unbestimmtheit gehaltene - „Gemeinwohl“ hätte erfordert, von den Arbeitgebern die Rückkehr zur Vertragsbasis zu verlangen, nicht aber von beiden Seiten „Verträglichkeit“.

Die ideologische Kriegsführung gegen die Gewerkschaften kalkuliert mit der Unsicherheit und den Arbeitsplatzsorgen in der Bevölkerung. Sie läßt ein anderes Kalkül außer Betracht: Welche Wirkung der Rechtsbruch zunächst einmal auf die Menschen in der ehemaligen DDR haben muß, welche Rückwirkungen dann aber auch im Westen der Republik zu erwarten sind - denn darüber sind sich die Beobachter klar: Es handelt sich um einen Probelauf auf der Teststrecke des Ostens, aber das Ziel für den Normalbetrieb ist eine Wende in den industriellen Beziehungen insgesamt. Eine Weichenstellung wird angestrebt, mit der die traditionell konsensorientierte Tarifpolitik, vielleicht sogar das System der Tarifautonomie überhaupt - als ein „Fremdkörper in der Marktwirtschaft“ (Wolfram Engels vom konservativen Kronberger Kreis) - aufgekündigt werden soll.

Aber warum frohlocken wir nicht? Ist nicht dieser Vorgang ein „eye opener“, wie ihn die Linke besser nicht wünschen kann: damit den Menschen die Augen aufgehen über den wirklichen Charakter einer modernen Gesellschaft, die auf der kapitalistischen Ordnung der Wirtschaft beruht, über den ideologischen Charakter ihres tragenden politischen Selbstverständnisses? Wir frohlocken nicht, wir sehen in einem Nachahmen des von der Bundesregierung und den Unternehmensverbänden gefahrenen Crash-Kurses keine erstrebenswerte Perspektive - uns ist schlicht das Risiko der Zerstörung von zivilgesellschaftlichen Errungenschaften, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu groß. Und deshalb sehen wir in den Vorbereitungen zum Streik nicht das berühmte Ritual, und fragen nicht - wie der Spiegel als Organ des gehobenen gesunden Menschenverstands - „Wozu jetzt noch der Streik?“, sondern müssen insistieren: Verträge sind einzuhalten, Rücknahme der Kündigung als Vorbedingung für die Suche nach neuen Formen und Inhalten des Konsenses. Anerkennung des Koalitionsrechts und der Rechtsgleichheit der Tarifparteien als dem zentralen Element von Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit.

Um diese Forderungen durchzusetzen, bleibt der IG Metall gar keine andere Wahl mehr, als ihre stärkste Waffe einzusetzen, damit zugleich das Lebensniveau gesichert und die politischen und sozialen Rechte verteidigt werden. Da außerdem im Westen bereits andere Vereinbarungen, vor allem die über die Realisierung der 36-Stunden-Arbeitswoche, in Frage gestellt worden sind, und da hier abgeschlossene Verträge auf betrieblicher Ebene zum Teil unterlaufen werden (Verrechnung mit Zulagen zum Beispiel), kommt dem Arbeitskampf in vielfacher Hinsicht prinzipielle Bedeutung zu.

Der Tarifkonflikt bietet unter der Voraussetzung seiner Einordnung in die antagonistische Struktur kapitalistischer Gesellschaften die Möglichkeit zu politisch bewußtem Handeln und zur Aufklärung - nicht nur der Mitglieder - darüber, daß den Gewerkschaften eine doppelte Funktion zukommt, die Funktion des Schutzes der von ihrer Arbeit und ihrem Lohn allein abhängigen Bevölkerungsmehrheit, und die Funktion, mit den industriellen Beziehungen zugleich die gesellschaftlichen Beziehungen mitzugestalten.

Über den zunächst notwendigerweise rein defensiven Charakter hinaus kann der jetzige Tarifkonflikt, zum Paradebeispiel werden auch für die Chancen einer „antagonistischen Kooperation“. Die Institutionalisierung der industriellen Beziehungen in unserer Gesellschaft, wie sie auf den Ebenen des Tarifsystems, der betrieblichen Interessenvertretung und Mitbestimmung sowie der politischen Regulation historisch erkämpft und durchgesetzt wurde, beruht auf dem Gegensatz und auf der Machtasymmetrie von Kapital und Arbeit. Es wird daher immer auf die relative Stärke der Kontrahenten, auf die ökonomischen Konjunkturen und auf die politischen Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft ankommen, wenn es darum geht, welchen Spielraum die Lohnabhängigen sich bei der Gestaltung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen in Kooperation mit dem Arbeitgeber (und im Konsens mit dem Gesetzgeber) verschaffen können. Heute haben wir es aber mit einer neuen Qualität und erweitertem Umfang sozialer Aufgaben zu tun. Die gegenwärtigen Probleme sind von einer Seite allein nicht zu lösen: Sie verlangen Kooperation in einer aktiven regionalen Struktur- und Entwicklungspolitik, um Arbeitsplätze im produktiven Sektor zu sichern und neue im öffentlichen Dienstleistungsbereich zu schaffen.

Was aber die unmittelbare Beziehung von Unternehmern und Beschäftigten angeht: Abgesehen von der besonderen Natur des Arbeitsvertrags, der zwischen Überlassung der Arbeitskraft und ihrer Nutzung im Arbeitsprozeß eine systematische Lücke läßt, eine Lücke, die für Konflikt und Kooperation viel Raum läßt, so gilt es auch hier, einer weiteren Dimension mehr als bisher Aufmerksamkeit zu schenken. Damit ist die Tatsache gemeint, daß auch bürgerliche Vertragsverhältnisse nie allein auf der wechselseitigen Anerkennung von Rechten und Interessen der (Wirtschafts-) Subjekte beruhen, wie es die klassische Theorie des ökonomischen Utilitarismus unterstellt, sondern zugleich auch immer „nicht-vertragliche“ Elemente zu ihrer Voraussetzung und als ihre Bestandsgarantie brauchen, also das, was als die „Moral“ einer Gesellschaft gelten kann, nicht zuletzt ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Selbst noch in ihrer Verdächtigung als Ideologie ist ein Geltungsanspruch angemeldet, der für den Abschluß und die Einhaltung des Vertrags als gemeinsame Orientierung an den gesellschaftlichen Normen einklagbar ist. Sebastian Herkommer

Professor für Soziologie an der FU Berlin