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Mit harten Bandagen gegen die Trendwende

Die ostdeutschen IG Metaller haben sich für Streik entschieden. Wegen der bisher beispiellosen außerordentlichen Kündigung wächst sich der Tarifkonflikt zu einem Grundsatzstreit aus, bei dem an den Grundfesten des Tarifsystems gerüttelt wird.

Karl Marx steht derzeit nicht hoch im Kurs. Doch daß von seinen Analysen weiterhin visionäre Kräfte ausgehen, das müssen, fast pünktlich zum Tag der Arbeit, einmal mehr die Tarifparteien erstaunt feststellen. Die kapitalistische Gesellschaft, so hat es der bärtige Philosoph prophezeiht, fördere den Egoismus, unterstütze den Bereicherungstrieb und untergrabe die Solidarität. Das Klima in der größer gewordenen Bundesrepublik ist spürbar rauher geworden, und in Krisenzeiten, in denen die Wirtschaft allenthalben schrumpft, verliert der Produktionsfaktor sozialer Frieden bekanntlich schnell an Gewicht.

In den neuen Bundesländern, wo sich der „Aufschwung Ost“ vorläufig als Fata Morgana entpuppt hat, ist nun erst einmal Konfrontation angesagt. Nach dem Urnengang der Metaller wird ab Montag in der ostdeutschen Metall-, Stahl- und Elektroindustrie gestreikt — für die Einhaltung des gültigen Tarifvertrags, der den Beschäftigten die stufenweise Anpassung ihrer Löhne an das Westniveau bis Ende 1994 garantiert. „26 Prozent mehr ist ökonomischer Selbstmord“, hatte DIHT-Präsident Hans-Peter Stihl noch am Montag bei der letzten Kanzlerrunde über den Aufbau Ost die von den Arbeitgebern gekündigte Stufenregelung verteidigt. Doch im Hintergrund wird bereits die Chance zu einer „generellen Trendwende“ (Arbeitgeberpräsident Klaus Murmann) gewittert.

Franz Steinkühler dagegen ist nicht nur klar, daß aus Ostdeutschland auf Dauer keine „Billiglohnkolonie“ werden darf. Der IG-Metall-Chef befürchtet zudem, daß, falls der „Arbeitgeberputsch gegen die Tarifautonomie“ nicht abgewehrt werde, auch die Tarifverträge im Westen keinen Tag mehr sicher sind.

Wegen der bisher in der Geschichte der BRD beispiellosen außerordentlichen Kündigung wächst sich der Tarifkonflikt immer mehr zu einer Grundsatzauseinandersetzung zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften aus, bei der nicht nur an den Grundfesten des Tarifsystems gerüttelt, sondern auch die sozialpartnerschaftlichen Arrangements und sozialen Sicherungssysteme des Nachkriegs-Kapitalismus in Frage gestellt werden. Angesichts dieser Dimension sind freilich nicht mehr Zahlen gefragt, sondern harte Bandagen. Lediglich eine Versicherung der Arbeitgeber, den Generalangriff auf bestehende Tarifregelungen wieder abzublasen und den geltenden Stufenvertrag einzuhalten, kann den Arbeitskampf noch verhindern. Streikführer Steinkühler: „Wenn die IG Metall zum Kämpfen gezwungen wird, dann wird sie kämpfen“ — notfalls mit monatelangen Streiks.

Die Furcht der Arbeitgeber vor Streik hält sich in Grenzen

Doch ob sich die Arbeitgeber tatsächlich in die Knie zwingen lassen, ist keineswegs ausgemacht. Die Furcht vor einem flächendeckenden Ausstand hält sich in ihren Reihen deutlich in Grenzen. Rund zwei Drittel der Ostfirmen können die Leute ohnehin nicht voll beschäftigen; ein Streik würde die Produktion dort kaum stören. Daß ein Arbeitskampf in Betrieben ohne Aufträge und mit Menschen ohne Perspektive schnell in sich zusammenbrechen kann, haben sich wohl auch schon die Hardliner im Gesamtmetall-Lager ausgerechnet. Außerdem fühlen sich die Arbeitgeber durch ein Umfrageergebnis des Emnid-Instituts ermutigt, nach dem sich drei Viertel der Ost-Metaller mit nur neun Prozent mehr Lohn zufrieden geben würden, wenn damit ihr Betrieb eine bessere Überlebenschance hätte.

Nicht zuletzt deshalb haben die Gewerkschaftsfunktionäre zunächst einmal die Kampfstimmung unter den 400.000 Beschäftigten ausgelotet. Schließlich ist es der erste Streik in der ostdeutschen Metallindustrie seit gut 60 Jahren; die Belegschaften sind sichtlich hin- und hergerissen und zudem nicht kampferprobt. Erst als die Mobilisierung bei Warnsteiks und Demonstrationen die Erwartungen der Frankfurter IG-Metall-Zentrale übertraf, wurde die Urabstimmung gewagt. Eine Niederlage in dieser Situation, in der die Arbeitgeber das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen, hätte für die ohnehin schrumpfende Gewerkschaftsbewegung fatale Folgen. Doch den IG-Metall- Funktionären dürfte nicht verborgen geblieben sein, wo sie ihre Kontrahenten am besten treffen können: auf der psychologischen Ebene. Gut die Hälfte der ostdeutschen Metallbetriebe befindet sich noch in Treuhand-Besitz, und dort glaubt man, nichts würde die neue Kundschaft und potentielle Investoren aus dem Westen mehr abschrecken als ein Streik.

Streiks könnten so manchem Betrieb den Garaus machen

Ein ramponiertes Image können sich nicht einmal die wenigen über der Gewinnschwelle operierenden Unternehmen leisten, den die Metaller mit gezielten Stichen große Schmerzen bereiten dürften. Bei der Deutschen Waggonbau etwa wurde man bereits im Vorfeld unruhig und bot im Alleingang mehr als die neun Prozent des Arbeitgeberverbands an — doch die Treuhand pfiff DWA-Chef Peter Witt postwendend zurück. Auch bei VW in Mosel und Opel in Eisenach will die Geschäftsleitung die volle Angleichung nach dem Stufenplan auf 92 % der Westlöhne bezahlen. Bei einem Streik in diesen Firmen könnte schon sehr bald wieder Bewegung in das sture Arbeitgeberlager kommen.

Eines aber müssen die kampfbereiten Metaller einkalkulieren: Streiks im wirtschaftlich dahinsiechenden Osten könnten dennoch eine verheerende Wirkung haben und so manchem Betrieb den Garaus machen. Zwar sei die Gefahr von Arbeitsplatzverlusten durch den überhöhten Tarifabschluß höher als durch einen Arbeitskampf, warnte gestern noch einmal der Vorsitzende des Sachverständigenrates Herbert Hax. Doch in einer kritischen Konjunkturlage würde die Wettbewerbsfähigkeit weiter geschwächt. Das Ergebnis: sinkende Investitionen, die für den Aufbau im Osten eigentlich dringend erforderlich wären.

Die IG Metall läßt das kalt, sie hat freilich andere Sorgen. Der korporative Konsens ist zerbrochen. Die neokonservative Wende im Zuge des Vereinigungsprozesses, in deren Mittelpunkt die Flexibilisierung der Arbeitskraft steht, prägt auch zunehmend das gesellschaftliche Bewußtsein. Mahnend hält es da Franz Steinkühler mit Bert Brecht: „Wer nicht teilt den Kampf, der wird teilen die Niederlage.“ Erwin Single

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