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Hilfe, wir vergreisen

Die demographische Entwicklung ist klar, die Gesellschaft wird immer älter – doch niemand zieht Konsequenzen daraus. Statt zuzugeben, daß der Generationsvertrag nicht mehr einzuhalten ist, werden die Alten als Wähler umworben.

Der Schock ist noch gar nicht richtig angekommen, schon erscheinen die ersten frohgestimmten Bücher über die „Chancen“ der vierten Lebensphase – der Senilität. Mobil-Sein heißt auch hier die Parole: vom eigenen Kachelofen hinein ins gutgeheizte Altensilo. Studieren Sie weiter, ganz ohne Rücksicht auf die überquellenden Hörsäle, die grauen Zellen müssen trainiert werden! Freuen Sie sich auf Ihre Altenpflegerin – wenn Sie gut versichert sind. Pflegen Sie sich – ab in die nächste Kuranlage! Und nicht vergessen: tapfer weiter wählen, gerade auf Ihre Stimme kommt es an! Nach getaner Tat geht es dann ins Bett mit der Lebensabschnitts-Partnerin für den vierten Frühling, nur Mut zum Risiko!

Alles Lüge. Nie hat die Gesellschaft dem Ideal der ewigen Jugend so hemmungslos gehuldigt wie heute. Angesichts der real existierenden Alterspyramide aller Industriestaaten gleicht das gespenstisch dem Grellschminken eines sozialen Leichnams. Altsein, Unversorgtsein und Alleinsein ist das Massenschicksal am Ende des Industriezeitalters. So erklärt sich auch, daß die faszinierend schön gezeichneten Greisengesichter aus unserer Umgebung fast ebenso vollständig verschwunden sind wie die verehrenswürdigen Persönlichkeiten der weisen Alten. Kinder – die neue Minderheit am Rande der Gesellschaft – kämpfen mit den alten Leuten um den Platz in der U- Bahn – das prägt die Alltagserfahrung und die gegenseitige Gereiztheit. Man kennt sich kaum noch, die eigenen Großeltern sind vorwiegend Besuchs- und Reisebekanntschaften, deren Bedeutung für die eigene Existenz tendenziell abnimmt. Wenn heute die durchschnittliche Lebenserwartung um die achtzig Jahre liegt, dann ist das hohe Lebensalter allein nicht mehr die Besonderheit, die schon Achtung erzwingt. Oft ist es nur noch leeres Überleben, ein Zustand der Existenz, für den es keine Aufgaben mehr gibt, außer zu konsumieren – und zu warten.

Die Zahlen addieren sich in langen düsteren Reihen: Im Jahre 2020 kommen auf jeden Jugendlichen im Straßenbild zwei MitbürgerInnen über sechzig, die man in der Regel nicht sehen wird, auch wenn sie trotzdem zu Buche schlagen. Innerhalb eines Generationenabstandes, von heute aus gerechnet, wird jeder Beschäftigte einen Rentner finanzieren müssen. Jedes neugeborene Kind in Deutschland hat vom ersten Schrei an vierzigtausend Mark Staatsschulden auf den Leib geschrieben.

Die Grundidee aller Sozialstaaten, der Generationenvertrag, kommt ins Wanken. Generationenvertrag, das hieß bisher: Die Eltern übergeben, vermittelt durch den Staat, den Kindern das Produktivvermögen, das sie selbst ererbt und um die eigene Lebensarbeit vermehrt haben. Sie tun das im Vertrauen darauf, daß die nächste Generation ihnen dafür einen würdevollen und sorgenfreien Lebensabend garantiert.

Dieser Vertrag ist schon heute Makulatur. Die neue Qualität der Bedrohung liegt darin, daß der Generationenvertrag gar nicht mehr einzuhalten ist, selbst beim besten Willen aller Beteiligten. Die Alten vererben zwar eine gewaltige Summe von privaten Reichtümern, aber keine Organisation des Gemeinwesens und der öffentlichen Finanzen, welche die Menge ihrer Versorgungslasten abdecken würde. Die zu wenigen Jungen, selbst von Arbeitslosigkeit bedroht, brechen unter einer so absurd verkehrten Alterspyramide fast zusammen. Handelte es sich bei den zu vererbenden Gesamtbedingungen von Staatsverpflichtungen und Sozialsystemen um eine privat angebotene Erbschaft, jeder vernünftig kalkulierende Erbfolger müßte sie ablehnen.

Ohne daß sich ein Kardinalschuldiger oder eine Adresse für prompte Erledigung des Problems ausmachen ließe, wachsen die ungelösten Fragen ins Gigantische. Außer den Sorgen um die Renten und die Staatsverschuldung kommen auf die nächste Generation noch die Berge ökologischer Altlasten und die Probleme mit den zu zu erwartenden Flüchtlingsbewegungen als Aufgaben hinzu. Schöne neue Kinderwelt ...

Das Thema ist eine tickende Zeitbombe, gerade noch die letzten geburtenstarken Jahrgänge sorgen für einen Aufschub in der Wahrnehmung. Dieser Blackout kann höchstens noch zehn Jahre aufrechterhalten werden, dann wird er in einer Weise die öffentliche Debatte um die Verteilung der knappen Sozialressourcen bestimmen, vor der man sich fürchten muß. Im Schatten dieses Blackouts segelt die Debatte um die Pflegeversicherung, die auf den Egoismus der Problemignoranten zielt.

Das Thema ist aber auch ein Tabu, in hohem Grade angstbesetzt und versehen mit gefährlichen Sanktionen. Zu verdrängt ist der Blick auf das eigene Alter und die drohende Hilflosigkeit, das chronische Unversorgt-Sein jedes modernen Lebensentwurfs. Zu nahe liegt das Risiko, falsch verstanden zu werden, zu nahe die Versuchung, den Komplex Alter bequem schönzureden. Welcher Politiker könnte es in der Epoche des Populismus wagen, über diese bleierne Last öffentlich zu diskutieren und damit die Mehrzahl der Wähler zu erschrecken? Welches Kind fände die Worte, drastisch auszumalen, wie sich eine Umwelt kulturell und atmosphärisch verändert, in der die Kinder zur geduldeten Randgruppe werden? Welcher Erwachsene – im Regelfall ein Single in der Großstadt – traute sich zu, über das schlechte Gewissen und das Gefühl der Überforderung bei dem Gedanken zu reden, was mit den eigenen Eltern im Krankheitsfall werden soll? Wo gibt es eine Öffentlichkeit, die es wagen würde, mit den älteren Menschen ehrlich über die Hypothek Generationenvertrag zu reden und auf deren Fähigkeit zu setzen, sich selbst um einen fairen Interessenausgleich zu bemühen? Dabei läge genau darin, im Mut zur Wahrheit, der Anfang einer Lösung.

Daß diese Lösung nur in einem historischen Kompromiß zwischen den Generationen liegen kann, liegt auf der Hand. Daß es nicht ohne Panik, Aggressionen und gegenseitige Beschuldigungen abgehen wird, auch. Die taz fängt mit dieser Debatte an. Wir werden sie fortsetzen. Antje Vollmer

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