: Jelzin will Verfassunggebende Versammlung einberufen
■ Republiken der Föderation sollen Vertreter entsenden / Rußland vor einem neuen Referendum?
Moskau (taz) – Die Idee einer Verfassunggebenden Versammlung ist nicht neu. Seit langem spukt sie durch die Korridore des Kreml als eine Variante, um den Widerstand des konservativen Volksdeputiertenkongresses gegen eine neue Konstitution zu umgehen. In einer Art Befreiungsschlag eröffnete Boris Jelzin nun gestern die Diskussion und schlug die Einberufung der Versammlung für Anfang Juni vor. Für ihn heißt es jetzt, den noch frischen Vertrauensbeweis im Referendum in greifbare Ergebnisse umzusetzen. Der Verfassungsentwurf wird heute in den Medien nachgereicht.
Rußlands derzeitige Konstitution stammt noch aus der kommunistischen Ära. Hundertfach wurde sie in den letzten Jahren verändert, ohne dabei eine klare Trennung der Kompetenzen zwischen den Gewalten zu vollziehen.
In seinem Vorhaben baut Jelzin vornehmlich auf die Unterstützung der Mitglieder des Föderationsrates. Ihm gehören alle Chefs der autonomen und halbautonomen Republiken und Gebiete der Russischen Föderation an. Obwohl sie politisch nicht eindeutig dem liberalen Spektrum zuzurechnen sind, boten sie ihm seit geraumer Zeit Hilfe an. Ihr Motiv ist nicht aus der Luft gegriffen. Sollten in Moskau Jelzins Gegner das Zepter in die Hand nehmen, wäre es um die Autonomie der Republiken schlecht bestellt. Jelzin köderte sie mit dem Modell einer vollwertigen Föderation. Der entsprechende Vertrag wird Bestandteil der neuen Verfassung sein.
In die Verfassunggebende Versammlung können und sollen die Republiken jeweils zwei Vertreter entsenden. Ob sie vom Volk gewählt oder vom Präsidenten ernannt werden, liegt in ihrem Ermessen. Gefährlich wäre es, wenn die Wahl den auch in den Republiken mehrheitlich konservativen Parlamenten überlassen bliebe. In Mordwinien etwa setzte das Parlament gerade den fortschrittlicheren Präsidenten ab.
Jelzin betonte, daß sein Verfassungsentwurf eben nur ein Entwurf sei. Vorschläge zur neuen Verfassung könnten die Republiken bis zum 20. Mai einbringen. Jelzins Variante favorisiert eine starke Präsidialdemokratie, die Legislative wird aus einem Zweikammernsystem bestehen. Eine Kammer bleibt ausschließlich den autonomen Subjekten der Föderation vorbehalten. Im Vergleich zur jetzigen Verfassung büßt das Parlament wesentliche Kompetenzen ein. Dem Präsidenten obliegt es, seine Minister zu ernennen. Allerdings muß er die Vorsitzenden der beiden Kammern konsultieren.
Jelzins Opponenten werden sich mit dieser Lösung kaum abfinden. In ihren ersten Aktionen nach dem Referendum zeigten sie sich mehr denn je entschlossen, dem Präsidenten Paroli zu bieten. Sie attackierten die Privatisierungspolitik, drohten an, die Medien unter ihre Knute zu zwingen, und verwarfen Jelzins jüngste Stellungnahme zum Bosnienkrieg.
Das Regierungslager stützt sich bei seinem Vorgehen auf den Zuspruch im Referendum. In der Verfassung steht das Prinzip des Plebiszits – als direkter Ausdruck des Willens des Souveräns – ausdrücklich über den Kompetenzen des Volksdeputiertenkongresses. Jede Entscheidung, die der Gesetzgeber gegen die Fortsetzung der Reformen treffe, meinte Jelzin, richte sich gegen den Willen des Volkes. Derlei Maßnahmen würde er sofort widerrufen. Noch ist ihm die Unterstützung in der Bevölkerung gewiß. Wenn die neue Verfassung steht, der Kongreß ihre Annahme aber verweigert, könnten die Russen ein weiteres Mal zu einem Referendum gebeten werden. Ermüdet und verstimmt, könnte sich dann endgültig eine Mehrheit für Parlamentsneuwahlen finden. Schlägt sich das russische Verfassungsgericht jetzt auf Jelzins Seite, bliebe die erneute Abstimmung den Russen wahrscheinlich erspart. Sorkin hatte zunächst Jelzins Opponenten gehätschelt. Nun muß er erst einmal die Windrichtung orten. Klaus-Helge Donath
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen