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Ein Ort als Hindernis für Serbiens Korridor

Seit einem Jahr liegt die ostbosnische Kleinstadt Gradačac unter serbischem Artilleriebeschuß  ■ Aus Gradačac Erich Rathfelder

Die sanft geschwungenen Hügel sind in ein Blütenmeer getaucht. Das Weiß und das Rosa von Tausenden von Kirsch-, Apfel- und Pflaumenbäumen, die goldgelben Matten des blühenden Löwenzahns auf den sattgrünen Wiesen lassen erahnen, warum die einstmals hier lebenden Menschen nichts sehnlicher wünschen, als endlich an diesen Ort zurückzukehren.

So hat die Umgebung von Gradačac wohl in jedem Frühling ausgesehen. Doch heute zeigt schon die Einfahrt in das Städtchen, daß der Wunsch nach einer baldigen Heimkehr wohl nicht so schnell in Erfüllung gehen wird. Rechter Hand steigt Rauch aus den Trümmern eines ehemals großen Hauses auf. „Restaurant“ kann man noch auf einem Rest stehen gebliebener Mauer lesen. Auf dem Parkplatz liegt ein Schild, auf dem auf deutsch „Zimmer frei“ zu lesen ist. Linker Hand sind die Dächer der properen Einfamilienhäuser durch Artilleriegranaten schwer getroffen.

Gradačac liegt am Rande des sechs bis fünfzehn Kilometer breiten Korridors, der von den serbisch besetzten kroatischen Gebieten über die bosnische Krajina nach Serbien reicht. „Sie müssen Gradačac erobern, weil der Korridor in der Ebene liegt und von unseren Hügeln aus bedroht werden kann“, meint einer der zurückgebliebenen Einwohner.

Von der ursprünglich von 13.000 Menschen bewohnten Stadt ist seit Beginn der Kämpfe am 14. April 1992 kaum noch etwas übriggeblieben. Im Stadtzentrum sind die Läden und Geschäfte, der Supermarkt und die Tankstelle ausgebrannt. Tiefe Löcher in den Wällen der alten Türkenfestung „Hussein Gradaščević“, die einst die Grenze des osmanischen Reiches zu den Ländern Habsburgs sicherte, zeugen von der Wucht modernen Kriegsgeräts. Vom Turm der Burg steht nur noch eine Wand.

Und doch regt sich noch Leben in der Stadt. Ein 15jähriger Junge wäscht im Schutze einer Ruine einen VW Golf. Auf der zur Ebene abgewandten Seite eines Hügels, der von der serbischen Artillerie nur schwer getroffen werden kann, sind gar einige Häuser intakt geblieben. In einem Garten arbeitet ein Mann in einem Gemüsebeet. „Als heute morgen die Granaten fielen, habe ich mich einfach hingelegt und dann weitergemacht“, erklärt er. Selbst den Zaun habe er wieder repariert.

Auch die Nachbarn kommen aus dem Haus, zwei Frauen mit ihren halbwüchsigen Töchtern, die zum Wasserholen gehen wollen. Die Leitung sei zwar kaputt, es komme aber täglich ein Lastwagen mit einem Wassertank. „Dort ist das Haus meiner Schwester, die schon im vergangenen Jahr gestorben ist, sie ist von einer Granate getroffen worden. Wir sind aus den umliegenden Dörfern hierher geflohen“, erklären sie. „Wir wollen nicht in ein Flüchtlingslager. Lieber leben wir hier.“

Auch in den naheliegenden Mehrfamilienhäusern regt sich Leben. Die allesamt zerstörten Fensterscheiben sind durch Plastikbahnen ersetzt. „UNHCR“, die Abkürzung für das Flüchtlings- Hilfswerk der Vereinten Nationen, ist darauf in großen Lettern zu lesen. Die Bahnen stammen aus den internationalen Hilfslieferungen. „Wir haben hier sogar Arbeit“, erläutert einer der Männer, „wir versuchen, so gut es geht, die Stadt wieder aufzuräumen, den Schutt von den Straßen zu fegen, die Wasserleitungen instand zu setzen.“ Er deutet auf eine Häuserzeile, die von einer Explosion vor zwei Monaten bis auf die Grundmauern zerstört worden ist. „Dort können wir nichts mehr tun, das war eine russische ,Luna‘-Rakete.“

Erst am vergangenen Dienstag wurde das nahe gelegene Dorf Kerep von einer solchen Rakete getroffen, viele der Einwohner sind gestorben. In der Kommandantur läßt der Kommandant Saddam Imamović Teile einer „Luna“ kreisen. Sie habe eine ungeheure Zerstörungskraft, fügt er hinzu. Auf einem der Trümmer ist noch die Fabrikationsnummer zu lesen. Es sei schwer zu sagen, ob diese Raketen erst kürzlich geliefert wurden, auszuschließen sei dies jedoch nicht. „Die serbische Seite bekommt sogar neue Waffen, wir aber sind mit einem Embargo belegt. Wir brauchen schleunigst Verteidigungswaffen.“ Der serbische Gegner wolle den Korridor mit aller Macht erweitern und dann in Verhandlungen eintreten. „Was sie einmal haben, geben sie freiwillig nicht mehr her.“

Um die Ecke, an einer besonders geschützten Stelle und durch Eisenträger abgesichert, gibt es sogar eine Bar. „Čevapčiči“ steht einladend an der Tür, Kaffee, Bier, sogar Schnaps kann man ebenfalls kaufen. „Die bosnischen Moslems sind mit der Religion nicht zu streng. Sie trinken ab und zu auch Alkohol“, erklärt der Restaurantbesitzer und zwinkert freundlich. An den drei Tischen lungern einige Soldaten der bosnisch-kroatischen Verteidigungsstreitkräfte, Mitglieder der 107. Brigade. „Wir gehören zur kroatischen HVO, sind aber Muslime. Deshalb nennen wir uns M-HVO.“ Hier in Ostbosnien gebe es keine Schwierigkeiten zwischen Kroaten und Muslimanen, erklären sie. „Wir kämpfen nur gegen die Serben, die Frontlinie verläuft 400 Meter weiter auf der anderen Seite des Hügels.“ Erst vor einer Stunde habe der Beschuß aufgehört, er könne nach den Erfahrungen der letzten Tage jedoch sofort wieder einsetzen, warnen sie.

Die Fahrt geht weiter entlang der Front in Richtung Brčko. Nach einigen Kilometern halten uns bosnische Soldaten an. „Die Straße ist jetzt gefährdet.“ Offenbar ist es der serbischen Seite gelungen, die Front zu ihren Gunsten zu verrücken. Auch im nahe gelegenen Dorf Maoca herrscht Aufregung. „Westlich von Brčko sind sie mit Panzern vorgerückt und haben aus allen Rohren auf unsere Stellungen geschossen“, erklären einige Soldaten. „Seit Donnerstag drücken wir dagegen. Sie werden nicht durchkommen.“

Düsterer beurteilt Dr. Ivan Hudolin die Lage. „Wenn nicht bald das Waffenembargo aufgehoben wird, haben wir ein neues Srebrenica.“ Hudolin ist Arzt und hat hier im letzten Jahr aus dem Nichts heraus ein ungewöhnliches Hospital errichtet. Die Operationsräume befinden sich im Keller eines Wohnhauses, die Krankenzimmer sind über das ganze Dorf verteilt. Sogar einige Bars und Restaurants sind Teil des Hospitals. „Am Mittwoch hatten wir 72 Verletzte, ich mußte 18 schwere Operationen durchführen“, erklärt der energische Mann. In gemeinsamer Arbeit hätten die Dorfbewohner eine Schule zu einem neuen Hospital umgebaut. „Hoffentlich können wir dort noch einziehen.“ Er habe schon einmal eine Niederlage erlebt, in Vukovar, wo er, der Kroate, ebenfalls als Arzt arbeitete. „Wann hört die Welt auf, uns im Stich zu lassen?“

Aus der Ferne grollt der Donner der serbischen Artillerie. „Gradačac wird wieder unter Beschuß genommen“, erklärt der Fahrer eines Krankenwagens. Ein verwundeter Mann wird herausgetragen und eilig in den Operationssaal gehievt. Ein Granatsplitter ist in seinen Bauch gedrungen. Dr. Hudolin macht sich an die Arbeit. „Routine“, sagt er, „nichts Besonderes.“ Nach einigen Minuten ist die Operation beendet. Der Splitter steckte in der Leber.

In Richtung Srebrenica und Tuzla führt die Straße durch lichte Wiesen und Wäder. Bauern arbeiten auf ihren Feldern, in den Obstgärten summen die Bienen, in den Vorgärten sind die Tulpen erblüht. Kaum einige Kilometer von der Front entfernt scheint das Leben wieder völlig normal zu verlaufen. Ein Junge mit amputiertem Bein, der am Wegrand sitzt, gemahnt an die Wirklichkeit. Es herrscht Krieg, und der Krieg kann von einer Stunde zur anderen auch in diese Landschaft einbrechen. Mit aller Zerstörung und Gewalt, mit all den Trümmern und Leichenbergen, die der Krieg immer hinterläßt.

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