: Opfer der Hauptstadt Von Ulrich Hinz
Paul ist tot, kein Freispiel drin! Paul, stadtbekannter Friseur aus Berlin-Charlottenburg, lebt zwar noch, hat aber seinen Laden dichtgemacht. Paul hat vor der Hauptstadt kapituliert. Nun ist zwar allgemein bekannt, daß die steigenden Gewerbemieten im neuen Großberlin immer mehr Einzelhändlern den Garaus machen. Aber Bürsten-Paule? Da war's doch immer voll. Und Paul war sogar schon mal im Fernsehen, quasi als Gesamtkunstwerk „Ich selbst“.
„Wenn Sie noch ein bißchen warten, fallen die Haare von alleine aus. Das wird dann billiger.“ Mit diesen ehrlichen Worten wurde ich empfangen, als ich das erste Mal Pauls Laden betrat. Beinahe wäre ich, obwohl wegen seiner flotten Zunge vorgewarnt, rückwärts wieder rausgegangen. Doch mit einer gehörigen Portion Beharrlichkeit und Gelassenheit gelang es mir dann doch, in seine Klientel aufgenommen zu werden.
Bei Bürsten-Paul ging es nicht sehr fein zu, im Gegenteil, äußerst grob ging es meist zur Sache. Paul hatte feste Ansichten, und die lagen reichlich weit rechts von der Mitte. Schon während der Wartezeit konnte man Pauls Weltanschauung aus den Randbemerkungen in den ausliegenden Zeitungen und Zeitschriften kennenlernen. Mit Kugelschreiber besserte der Friseur Artikel und Meinungen in der Presse nach: „Die Rechten sind harmlos, die Linken sind die Lumpen.“
Während der Kopf-Behandlung wurde man weiter indoktriniert. Grundlegende Menschenverachtung schlug sich immer wieder Bahn in zotigen Bemerkungen: „Ich tu' Ihnen jetzt Haarspray rein. Ist aber ohne FCKW, damit kriegen wir den Iwan auch nicht kaputt.“
Manche Leute sind dann aus politischen Gründen nicht mehr hingegangen. Aber die meisten sind immer wiedergekommen. Der Grund war einfach: Paul schnitt tadellose Bürsten. „Tausend Bürsten sind zu wenig, Bürsten-Paule ist der König“, war sein bescheidener Wahlspruch. Und Paule war billig, unvergleichbar billig. „Da muß man eben schneller arbeiten, dann verdient man genausoviel. Aber will ja heute keiner mehr...“
Was Paul herausgehoben hat, aus dem Heer der Berliner Friseure, war natürlich sein hoher Unterhaltungswert. Blanker Zynismus, kein Gelaber übers Wetter, über den morgendlichen Berufsverkehr, über Magenprobleme infolge von übertriebener Kaffeezufuhr, nix übers Fernsehen. Nur das Leben pur – und das immer von seiner häßlichsten Seite. Man wußte eigentlich nie, ob man angewidert aufspringen oder einfach nur die Show genießen sollte. Ein Super-Motzki war dieser real existierende Friseur. Und darauf müssen wir jetzt verzichten, nur weil hier jetzt Hauptstadt ist?
Was wird also die Zukunft bringen? Vielleicht zurück zur immer noch billigsten Variante, dem Haarschnitt von der Freundin? Unmöglich, dafür hat Paul mich zu sehr versaut. Wer einmal über den Tellerrand geschaut hat, der mag nicht sein ganzes Leben in der Suppe schwimmen. Was bleibt, ist der kalte Sprung ins Wasser und die beschwerliche Suche nach einem neuen Friseur mit Unterhaltungswert. Oder ich ziehe hier doch weg.
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