Thema Bürgerschaftswahl: "Die Ungültigkeit der Wahl wirkt nicht zurück"
■ Die taz bat Wolfgang Hoffmann-Riem, den Vorsitzenden der Enquetekommission Parlamentsreform, um eine Bewertung der Lage
THEMA BÜRGERSCHAFTSWAHL
»Die Ungültigkeit der Wahl wirkt nicht zurück« Die taz bat
Wolfgang Hoffmann-Riem, den Vorsitzenden der Enquetekommission Parlamentsreform, um eine Bewertung der Lage
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2å So mutig war das Hamburger Verfassungsgericht lange nicht mehr. Endlich hat ein Gericht erkannt, welche Bedeutung für die Wahlen die Kandidatenaufstellung hat. Das Hamburger Verhältniswahlrecht und die dadurch begünstigten innerparteilichen Machtkonstellationen haben die CDU verführt, wichtige Grundsätze innerparteilicher Demokratie zu vernachlässigen. Auch für andere Hamburger Parteien sollte das Urteil Anlaß für die Suche nach Fehlentwicklungen und für innerparteiliche Reformen sein. Zugleich muß das Urteil ein Anstoß sein, die von der Enquetekommission Parlamentsreform angeregten Änderungen des Wahlrechts und der Kandidatenaufstellung umzusetzen.
Für viele überraschend ist die Folgerung der Ungültigkeit der Bürgerschaftswahl insgesamt. Wie aber anders sollten Folgen aus den Mängeln gezogen werden? Hätte das Gericht sie nur folgenlos angemahnt, wäre ein Stück verfassungsrechtlicher Glaubwürdigkeit verlorengegangen. Die politischen Folgen allerdings treffen alle Parteien — mit allen Risiken und Chancen bei Neuwahlen. Die juristischen Folgen sind jedoch begrenzt. Für Wahlprüfungsentscheidungen gilt im deutschen Verfassungsrecht der Grundsatz, die Auswirkungen auf das Geringstmögliche zu begrenzen und Rechtssicherheit zu gewähren. Zwar war es nicht möglich, die parlamentarischen Folgen auf die CDU zu beschränken. Die sonstigen Folgen aber lassen sich begrenzen. Es kann nicht in der Hand einer Partei liegen, die verfassungsrechtliche Prinzipien mißachtet, aufgrund dieses Fehlers die Handlungsfähigkeit von Parlament und Regierung zu gefährden und damit Nachteile für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben und damit für alle Bürger zu schaffen.
Nach dem jetzigen Stand meiner Überlegungen zeichnet sich folgende Lösung ab: Die Ungültigkeit der Wahl wirkt nicht zurück. Anders wäre es zum Beispiel in einer Situation gewesen, in der das Wahlgesetz selbst nichtig gewesen wäre. Die Bürgerschaft war voll handlungsfähig. Die Abgeordneten verlieren auch nicht ihre Parlamentsitze. Die Wahlperiode der jetzigen Bürgerschaft endet mit dem Zusammentritt der neuen Bürgerschaft. Die Neuwahl muß schnellstmöglich durchgeführt werden, um den Makel unverzüglich zu beseitigen. Der von der alten Bürgerschaft gewählte Senat bleibt ohnehin bis zur Wahl neuer Senatoren im Amt.
Und die Dauer der neuen Wahlperiode? Für sie gilt Art. 10 der Verfassung: Die Bürgerschaft wird auf vier Jahr gewählt. Es handelt sich nämlich nicht um eine Wiederholungswahl für einzelne Wahlbezirke, sondern um eine Wiederholung der Wahl der gesamten Bürgerschaft, die der Sache nach eine Neuwahl ist. Diese muß auf der Grundlage neuer Wahlvorschläge zumindest bei der CDU erfolgen, da gerade diese Wahlvorschläge den Grund der Ungültigkeit ausmachten. Aber auch die anderen Parteien müssen die Gelegenheit haben, ihre Vorschläge auf die gegenwärtige Lage abzustimmen.
Mit solchen Folgen kann Hamburg die Übergangszeit gut überstehen. Hamburg sollte aber darüber hinaus das Signal des Gerichts ernst nehmen: Es ist nicht alles so heil in Hamburg, wie viele Politiker immer wieder beschwören. Das Gericht hat nur einen Zipfel gelüftet. Davor, daß nicht noch weitere Mißstände zu spektakulären Folgen führen, schützt am ehesten eine grundlegende Verfassungs- und Parlamentsreform. Zu hoffen ist, daß die Parteien so lernfähig sein werden, nur solche Kandidaten aufzustellen, die dazu endlich bereit sind, und daß die Wähler so weise sein werden, dies zu honorieren.
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