: Rußland: Parlamentsneuwahlen schon im Herbst?
■ Bei seiner ersten Fernsehansprache seit dem Referendum kündigt Boris Jelzin entsprechende Parlamentsvorlage an / Demonstrationsverbot für Kommunisten
Moskau (AFP/dpa/taz) – Die Hälfte der Katze ist aus dem Sack. Nachdem Boris Jelzin bereits in den vergangenen Tagen eine „entscheidende Maßnahme“ angekündigt hatte, wissen die BürgerInnen Rußlands seit Donnerstag abend, daß sie bereits im Herbst erneut an die Urnen dürfen. Via Fernsehen teilte der Präsident mit, dem Obersten Sowjet „in Kürze“ eine Vorlage über die Durchführung vorgezogener Parlamentsneuwahlen vorzulegen. Weiterhin unklar ist jedoch, wie Jelzin die Abgeordneten dazu bringen will, für ihre eigene Entlassung zu stimmen, zumal die übergroße Mehrheit kaum damit rechnen kann, in dem zukünftigen Zwei-Kammern-Parlament einen Sitz zu ergattern.
Die demokratische Legitimation für sein Vorgehen leitete Jelzin von den Ergebnissen des Referendums ab: Es sei eine große Niederlage der gesetzgebenden Organe, daß in 87 von 90 russischen Wahlkreisen die Mehrheit der Wähler für Neuwahlen des Volksdeputiertenkongresses gestimmt habe. Der Kongreß hätte „nur die Wahl, sich dem Reformkurs anzuschließen“.
Zu dem nun angekündigten „Fünf-Punkte-Plan“ des Präsidenten gehören neben Parlamentswahlen auch die Annahme einer neuen Verfassung, die Vertiefung der Reformen, der Aufbau einer neuen Behörde gegen Verbrechensbekämpfung sowie die Entlassung von Reformgegnern aus dem Staatsdienst. „Die Russen haben den wichtigsten Punkt verstanden“, sagte Jelzin in der ersten Fernsehansprache seit dem Referendum. Nur mit Reformen, so „schmerzhaft“ diese auch sein mögen, könne Rußland überleben.
Zugleich verurteilte Jelzin scharf die blutigen Ausschreitungen bei der 1.-Mai-Kundgebung kommunistisch-nationalistischer Gruppierungen: „Einen zweiten Bürgerkrieg lassen wir nicht zu.“ Bei den Unruhen waren ein Mitglied der Sondertruppen des Innenministeriums (OMON) getötet und mehr als 500 Menschen verletzt worden.
Unterdessen hat das Moskauer Bürgermeisteramt lediglich zwei nationalistischen Organisationen für den kommenden Sonntag eine Demonstrationserlaubnis erteilt. So können die „Offiziersunion“ sowie die sich selbst als „liberaldemokratisch“ bezeichnende Partei von Wladimir Schirinowski im Zentrum Moskaus – nicht jedoch am Roten Platz – das Ende des 2. Weltkriegs feiern. Keine Genehmigung erhielt dagegen die „Nationale Rettungsfront“. Ihr Führer, Michail Astafajew, kündigte an, sich dem Verbot zu wiedersetzen. Keine Folgen hat die Beteiligung an der 1.-Mai-Kundgebung zunächst für die Anführer des Augustputsches. Obwohl die Generalstaatsanwaltschaft am Mittwoch ihre erneute Inhaftierung gefordert hatte, sah das zuständige Militärkollegium des Obersten Gerichts hierfür „keine Grundlage“. Gerichtlich belangen möchte die Staatanwaltschaft auch mehrere Organisatoren der Demonstration, so forderte sie unter anderem die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Viktor Amplow, dem Vorsitzenden der Bewegung „Arbeitendes Rußland“. Der Prozeß gegen die Putschisten, der Mitte April bereits nach drei Tagen aufgrund der Verhandlungsunfähigkeit eines Angeklagten unterbrochen worden war, soll am 12. Mai wieder aufgenommen werden.
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