: Die mathematische Dimension
Werder Bremen schlägt Borussia Dortmund mit 1:0 und hat dabei eben einfach unberechenbares Glück gehabt ■ Aus Bremen Markus Daschner
Die Welt ist voller Rätsel, zumal die Fußballwelt. Da ist als erstes das Geheimnis, wie aus einer definierten Zahl von achteckigen Lederflicken so ein verdammt runder Ball entstehen kann. Nicht weniger als ein kleiner Exkurs über die Entwicklung der Fläche zum Raum ist da als Antwort gefordert. Wer sich darauf einläßt, landet ohne großes Zutun bei Einstein in der Diele.
Nicht nur in diesem Sinn ist Fußball recht eigentlich eine mathematische Angelegenheit, wenngleich auch, um den berühmten Fußballlehrer Otto Rehhagel zu zitieren: „kein Computerspiel“. Ist das Feld nicht auffällig rechteckig? Lauern nicht Kreise oder Halbteile dieser unberechenbaren Form allüberall auf dem Spielfeld? Läßt sich am Ende ein Torschuß nicht auf die Frage reduzieren, welchen Winkel die Flugstrecke des Balls als Schenkel zu einem beliebigen Punkt innerhalb des Tores mit der Grasnarbe als gedachter Basis zu beschreiben hat? Die Berechnung eines Dreiecks, wir erinnern uns, ist dann möglich, wenn mindestens eine Seite und die beiden anliegenden Winkel gegeben sind.
Wir wissen nicht, welche Berechnungen der Mathematikstudent und Fußballprofi unter Vertrag des SV Werder Bremen Marco Bode am Sonntag abend im Weserstadion angestellt hat, bevor er um 18.20 Uhr eine astreine Flanke von Wynton Rufer aus 14 Metern voll abgezogen, aber eben doch leicht über das Tor von Dortmunds Torwart Stefan Klos setzte. Werder Bremen gegen Borussia Dortmund: Das war ein hochgerechnetes Meisterschaftsspiel, das zu diesem Zeitpunkt schon 18 Minuten alt war. Es sollte ein Spiel werden mit vielen Gleichungen, die nicht aufgingen.
Die gelb-schwarze Nuß aus Dortmund wollten die Bremer unbedingt knacken. Und darum griffen sie an, bis der Rasen rauchte: Das Gurkentor, daß Frank Neubarth dann in der 36. Minute mehr auf den Fuß sprang als daß es als Ergebnis eines klugen Rechenweges hätte gelten können, war dem Spielverlauf angemessen, dem Niveau aber nicht. Zu gut waren die Kombinationen der Bremer bis dahin, ihr Kampf, ihr Können und ihre Kraft, als das dieser getretenermaßen wurstelige 3,78- m- Schuß von Neubarth eine Krönung hätte sein können. Da unterscheidet sich der Fußball dann doch von der Mathematik: Der Weg zur Lösung einer Aufgabe ist egal, Hauptsache, es rasselt.
Daß der Fußball also kein Computerspiel ist, nahm Otto Rehhagel als Erklärung dafür, daß der SV Werder nach dem Sahnespiel gegen den FC Bayern gegen Borussia Dortmund dann wie aus heiterem Himmel vergleichsweise alt aussah. In der zweiten Halbzeit schien es, als hätten die Mannschaften heimlich die Trikots getauscht. Die Fans in der Ostkurve, die bis zur Pause die knackigen Szenen am anderen Ende des Spielfeldes mehr erahnen als sehen konnten, hatten sich zu früh auf eine rasante zweite Halbzeit gefreut. Der Sturm lief auch nach der Pause auf das Tor vor der Westkurve. Dortmund drückte, Werder rückte nach hinten. Sang- und klanglos versackten die Bremer im Sumpf ihrer eigenen Häfte. Allein Stephane Chapuisat hätte die Dortmunder gleich nach Anpfiff zur zweiten Halbzeit in Führung schießen müssen. Lothar Sippel, wie Frank Mill in der 70. Minute eingewechselt, versiebte in zehn Minuten mehrere todsichere Chancen. Entweder versagten die Nerven, oder Oliver Reck, als Torwart in Bremen mittlerweile vom häßlichen jungen Entlein zum stolzen Schwan gewachsen, fischte sich die Bälle.
Wer denn nun Deutscher Meister wird, fragten die Journalisten am Ende die Trainer, und Otto Rehhagel, kein Mann von vielen Worten, antwortete, was er zu dieser Frage seit zwölf Jahren antwortet: „Wer am letzten Spieltag oben steht.“ Die Deutsche Fußballmeisterschaft, wir haben es geahnt, ist eben eine Additionsaufgabe.
Borussia Dortmund: Klos - Grauer - Schmidt, Kutowski - Lusch (71. Sippel), Franck, Sammer, Rummenigge, Poschner, Reinhardt (71. Mill) - Chapuisat
Zuschauer: 40.000; Tore: 1:0 Neubarth (36.)
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