Vom Krimi zur Heilslehre

Lebende Leiche im Schlaraffenland auf der anderen Seite der Ordnung: Abel Ferraras „Bad Lieutenant“  ■ Von Harald Fricke

Wer Sex und Tod in Einklang bringen will, endet meistens in der Kirche. Das gilt für die geheiligten Verschwender von Georges Bataille ebenso wie für den zockenden Kriminalinspektor, auf den Abel Ferrara in seinem Action-Essay über den Hardcore dieser Welt hinter jeder Ecke die Erlösung lauern läßt. Es ist sehr beruhigend, wenn der fiese Bulle nach zwei Stunden Berichterstattung aus dem irdischen Jammertal endlich vor seinen Schöpfer treten kann.

Die zwei Seelen in der Brust des unentschiedenen Gesetzeshüters haben sich bereits mit der ersten Einstellung als tiefe vertikale Falten in das teigige Gesicht von Harvey Keitel eingeschrieben. Die Mundwinkel hängen nach unten, kein Gramm Koks kann ein wenig Licht in seinen tristen Drogen-Alltag zwischen Massenmord und Kindtaufe bringen. Nur die Satellitenschüssel auf dem Dach des Einfamilienhauses holt ihm einige Lebenszeichen von draußen in die katholische Wohnstube. Doch beim Baseballspiel der Dodgers hat er schon diverse Montagsgehälter verwettet, noch ehe die erste Leiche inspiziert ist.

Anders als in „King of New York“, jenem monumentalen Gangster-Film, in dem ein Kollege bereits die Wiedergeburt des Spaghetti-Westerns aus dem Geist des Kriminalfilms vermutete, ist „Bad Lieutenant“ streckenweise trockener als alle Polizeireporterreportagen auf RTL plus.

Die Blicke sind zwar weiterhin lüstern, das Mobiliar im Appartement des Junkie-Mädchens fetischistisch gewählt, aber routiniert fahndungstechnisch objektivierend gefilmt. Diese Gleichgültigkeit spiegelt sich in der Wahrnehmungsweise des Lieutenant wieder.

Ihm ist selbst dann noch die müde Apathie eingeschrieben, wenn er aus Wut über die Baseballergebnisse sein Autoradio mit der Pistole durchlöchert (sehr lustig) oder zwei Mädchen vom Lande zum verbalen Liebesspiel zwingt. Nicht einmal das angemietete SM- Pärchen schafft es, ihm ein wenig Freude zu spenden, wenn er fett und betrunken vom Ohrensessel aus zuschaut. Der graue Wolf ist nichts anderes als eine lebende Leiche im Schlaraffenland auf der anderen Seite der Ordnung, auf der alle Blicke – auch für Ferrara – erlaubt sind. Verloren auch dieses Paradies.

Die Drogen werden härter: Smack, Crack, Ice wie Tacos, Hamburger und Tortilla-Chips. Besser als in „Naked Lunch“ gerät der Trip des Polizisten zum zersplitterten Psychogramm, aus dessen Alpträumen Keitel erst wieder auf dem Sofa im Schoß der Familie erwacht. Es ist erstaunlich, mit welcher stoischen Gelassenheit Schwiegermutter, Frau und Töchterlein den Niedergang ertragen. Fast vermutet man dahinter ein altes Männerleiden.

Noch bleibt der gescheiterten Existenz aber eine letzte Bewährungsprobe offen. Eine Nonne ist von zwei Jungen aus ihrer Gemeinde auf dem Altar vergewaltigt worden, ein bißchen Realität dringt also selbst zum bedröhnten Bullen durch, auch wenn der Regisseur die Gewaltphantasien in ein cremefarbenes Orientalistengemälde verwandelt. – Mit dem Fall beauftragt, beginnen sich die religiösen Motive von Suche und Flucht zu vermischen: Auf der einen Seite sind ihm mittlerweile die Buchmacher auf den Fersen, um seine Wettschulden einzutreiben, zum anderen könnte die ausgesetzte Belohnung für die Ergreifung der beiden Triebtäter dem gestrauchelten Polizeibeamten über den Schuldenberg helfen. Plötzlich wird die Nonne zum Wendepunkt in seinem Leben, doch auch diese Tür bleibt verschlossen. Sie hat ihren Schuldigern vergeben, und keine Gerechtigkeit auf Erden wird sie in ihrer göttlichen Berufung umstimmen können, den „bitteren Samen in süße Frucht“ zu formen.

Spätestens mit diesen Dialogen zur Heilslehre kippt der Krimi in barockes Trauerspiel um, bei dem der ehemalige Undergroundnihilist und „Drillerkiller“ Ferrara recht unverblümt Gott im Himmel die Karten verteilen läßt. Keitel erscheint Jesus am Altar, und die Konversion fällt heftiger aus als jedes noch so weltneuordnende Splatterfinale: „Hilf mir, denn ich bin schwach“, die Sätze gehen runter wie Weihwasser, das von nun an all den Wodka und die Opiate ersetzen wird.

Ein letztes Mal reitet der Sheriff durch die Apokalypse von New York. Die Vergewaltiger läßt er laufen, weil auch sie nur aus jenem schwachen Fleisch sind, von dem er baldige Erlösung hofft. Väterlich rät er ihnen, Abbitte zu leisten, und schenkt seine letzten hundert Dollar weg. Der Bulle wird sie nicht mehr brauchen, schon wartet die Mafia vor dem Busbahnhof, um ihn im Sinne des Katholizismus zu befreien. Währenddessen fällt auch im Baseballstadion der entscheidende Schlag, doch wie dieses Spiel ausgeht, verrät Abel Ferrara nicht. Pascal hätte nicht besser wetten können.

Abel Ferrara: „Bad Lieutenant“. Kamera: Ken Kelsch; mit Harvey Keitel, Peggy Gormley, Zoe Lund u.a., USA 1993, 96 Min.