: Überzeugungen sind geschwächt
■ Die Sozialisten haben keine Ideen
Gerard Grunberg ist Koautor des Buches „Die langen Gewissensbisse der Macht. Die Sozialistische Partei Frankreichs (1905–1992)“
taz: Überall herrscht der Eindruck vor, daß die Sozialisten ihre Identität verloren haben. Wie kann die Linke eine neue Programmatik finden?
Gerard Grunberg: Gewiß, die tiefsten sozialistischen Überzeugungen sind geschwächt. Der Zusammenbruch des Kommunismus hat dem demokratischen Sozialismus seine Rolle als Mittelweg zwischen Kapitalismus und Kommunismus genommen, weshalb er nun seine Beziehungen zum wirtschaftlichen Liberalismus neu definieren muß. Die Sozialisten hatten allerdings schon einen Teil ihrer Identität verloren, als sie ihre revolutionären Ideen aufgaben und sich zur Marktwirtschaft bekannten. In Schweden geschah das Ende der 30er Jahre, in Deutschland 1959 und in Frankreich zu Beginn der 80er. Die regierenden Sozialisten vertraten eine Arbeiterklasse mit eigenen Werten, die sich größtenteils den linken Parteien zugehörig fühlten. Doch die Entwicklung einer breiten Mittelklasse mit individualistischen, ökologistischen Werten hat dazu geführt, daß die alten kollektiven Werte der Arbeiterklasse selbst links nicht mehr dominieren.
Die Sozialisten sind mit einem moralischen Anspruch angetreten. Nun häufen sich in vielen Ländern ihre Affären. Wie erklären Sie diese Korruptionsanfälligkeit?
Das stimmt für Italien, Frankreich, Spanien und Griechenland. Einige Gründe dafür: Das politische Leben wird immer teurer, zugleich gibt es immer weniger Parteimitglieder. Die Linken, die traditionell weniger Beziehungen zum Kapital haben, sind zweifelhafte Verbindungen eingegangen, um an Geld zu kommen. Man kann auch nicht ausschließen, daß diese Parteien, deren Politiker vielfach aus Arbeiter- und Mittelschichten stammen und plötzlich mit einem kulturellen Wechsel konfrontiert waren – wo Geld auf einmal einen großen Wert hatte, alles regelte –, daß es da vielleicht persönliche Schwächen gab.
Glauben Sie, daß die linken Parteien fähig sein werden, sich so zu wandeln, daß sie überleben und die neuen Probleme angehen können?
Derzeit haben die linken Parteien große Probleme, eine glaubwürdige Regierungsalternative darzustellen und wieder an die Macht zu kommen. Das eigentliche Problem sehe ich darin, daß die sozialistischen Parteien heute keine Analysen und Vorschläge zum Problem der Arbeit entwickeln. Schließlich gründete ihre Identität und ihre Autonomie vor allem auf diesem Gebiet. Doch sie reflektieren nicht mehr darüber, wie die Arbeiter in der heutigen Gesellschaft verteidigt werden könnten. Sie beschränken sich vielmehr auf eine These von Helmut Schmidt, die angesichts des technischen Fortschritts nicht mehr stimmt: Die heutigen Profite der Unternehmen sind die Arbeitsplätze von morgen. Interview: Bettina Kaps
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