: Vorsicht, Absturzgefahr
■ Der Sozialistischen Internationale fehlt ein richtungsweisendes Zukunftsprojekt, will sie weiter bestehen
Beim letztjährigen Berliner Kongreß der Sozialistischen Internationale (SI) wurde vermutlich zum letzten Mal die „Internationale“ intoniert, weil sich bei jenen Klängen die Faust zahlreicher Delegierter nicht mehr nach oben reckte, sondern in der Tasche ballte. Symbol der Mutlosigkeit? Vor allem ein Ausdruck des epochalen Wandels seit 1989, der auch die SI erfaßt hat. Sangen die Altvorderen jahrzehntelang trotzig die „Internationale“, um allen Kommunisten zu beweisen, daß nicht sie, sondern die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien Westeuropas Heimstatt der linken Ideale seien, so gilt das nach 1989 eben nicht mehr, da die Kommunisten auf die Bretter gegangen sind – und die neuen oder wiederbelebten Linksparteien Osteuropas die traditionellen Sozi- Symbole weder hören noch sehen wollen. Daß rote Fahnen und die Genossen-Anrede zum störenden Anachronismus geworden sind, hat die israelische Arbeiterpartei lautstark vorgebracht: Potentielle Linkswähler, die aus Rußland und anderen GUS-Staaten in großer Zahl zuwanderten, sollten nicht durch „verhaßte Symbole“ abgeschreckt werden.
Wenn es darum ging, ideologische Zöpfe abzuschneiden, war die SI nie zimperlich. Das lag vor allem an Olof Palme, Willy Brandt und Bruno Kreisky. Sie waren lange Zeit das Dreigestirn, an dem sich Reformsozialisten weltweit ausrichteten. Sie schrieben Demokratie größer als Sozialismus. Attraktiv waren ihr geistiges und materiell-solidarisches Angebot allemal für jene Sozialisten, die schon froh sein mußten, wenn in ihren Ländern endlich ein Leben in Freiheit herstellbar war. Dabei hatte die SI wesentlichen Anteil am Sieg der Demokraten über die rechten Diktatoren in Südeuropa und Lateinamerika sowie über KP-Diktaturen in Osteuropa. So manche der dort mittlerweile etablierten sozialdemokratischen Parteien wurde im Exil gegründet, was massive politische und finanzielle Unterstützung voraussetzte. Erst kürzlich feierten die portugiesischen Sozialisten ihr 20jähriges Bestehen am Gründungsort in der Eifel.
Auch die geographische Reichweite der SI kann sich sehen lassen. Unter der Präsidentschaft von Willy Brandt wandelte sie sich von einem westeuropäischen Verein zu einer wirklichen Internationale: Sie erweiterte sich zunächst gen Süden, vor allem in Lateinamerika, und in den letzten Jahren gen Osten. Dabei wuchs die SI von 57 Mitgliedsparteien 1976 auf nunmehr 111 Parteien an. Doch Quantitäten sagen wenig über Qualitäten. Über letztere läßt sich streiten, da einige Mitgliedsparteien in ihrer Alltagspolitik quer zu den Grundwerten der sozialen Demokratie liegen. So manche Partei wurde huckepack SI-Mitglied, weil den Altvorderen ihr Dabeisein nicht aus ideologischen, sondern aus außenpolitischen Gründen opportun erschien. Denn erweiterte Mitgliedschaft beförderte zentrale Anliegen der SI, insbesondere die Befriedung in Konfliktregionen, wo SI-Vermittler zäh am Ball blieben. Im Mittleren Osten oder in Mittelamerika war und ist die SI ein hilfreicher Broker, der Konfliktparteien an den Verhandlungstisch gebracht hat.
Genug der Hommage. Die SI ist gegenwärtig in Turbulenzen geraten, die so schwer sind, daß ein steiler Absturz nicht ausgeschlossen werden kann. Es sind zu viele kleine Parteien hinzugekommen, die partout nicht größer werden wollen oder können, derweil die vormals großen Mitgliederparteien spürbar schrumpfen. In Osteuropa sind die demokratischen Sozialisten weiterhin ohne nennenswerten Einfluß, in Westeuropa sind SI-Parteien auf dem absteigenden Ast. Ein Grund dafür: Die SI-Parteien wissen keine überzeugenden Antworten, wenn nach Rezepten zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, der Modernisierung des Sozialstaates oder der Eindämmung nationalistischer Tendenzen gefragt wird. Die SI hat es bislang versäumt, einen selbstkritischen Diskussionsprozeß über internationale gesellschaftliche Perspektiven in Zeiten beinharter Wirtschaftskonkurrenz und ökologischer Horrorszenarien einzuläuten. Mit Jet-set-Meetings und luftigen Resolutionen ist es ebensowenig getan wie mit pseudophilosophischen Prinzipienerklärungen, die honigsüß alle goutieren können.
Was der SI fehlt, ist ein gemeinsames Zukunftsprojekt, das sich regional und national realisieren läßt. Nur außen- und sicherheitspolitisch ist jenes Projekt erkennbar, da richtungweisend auf die Vereinten Nationen. Die Achillesferse der SI-Parteien ist die Sicherung bzw. Verwirklichung des Sozialstaates. Mit „klassischer“ Umverteilung aus den Zuwächsen und keynesianischer Nachfragepolitik lassen sich in Zeiten leerer Finanzkassen und weltweiter Kapitalmobilität Wählermehrheiten nicht länger gewinnen. Nötig ist gemeinsames Nachdenken über faire Spielregeln in einer eng verflochtenen und zugleich heterogenen Welt. Viel Zeit hat die SI dazu nicht. Michael Hofmann
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