piwik no script img

"...und dann wirste gefragt, warum!"

■ Menschen von der Straße werden nach ihrem Tod verscharrt, und keiner weiß, wo.

Da ich gehört habe, daß ihr euch für die Leute im Knast interessiert, schreibe ich euch. Ich sitze zur Zeit in der JVA Bernau am Chiemsee. Ich bin 26 Jahre alt und lebe seit vier Jahren auf der Straße. In den letzten zehn Jahren war ich insgesamt vier Jahre und zehn Monate inhaftiert. Jetzt habe ich nochmal achteinhalb Monate.

Ich habe in meinem Leben schon einige Schicksalsschläge hinter mir, aber was ich Mitte März erfuhr, war für mich das Schlimmste. Und dann sah ich nirgends eine Möglichkeit, einen Gesprächspartner für meine Empfindungen und meinen Schmerz zu finden. Darum schreibe ich jetzt an euch.

In den letzten vier Jahren, seit ich auf der Straße lebe, reiste ich mit einem Freund durch Deutschland und Italien. Wir lernten uns zufällig bei Bier und Korn im Park kennen und daraus wurde eine Super-Freundschaft. (Das Leben auf der Straße kann Menschen unheimlich verbinden.) Wir hätten uns gegenseitig das Leben gegeben, um dem anderen zu helfen.

1992 waren wir mit unseren zwei Hunden zehn Monate auf Sicilia (Italien). Ende November mußten wir das Land verlassen, weil wir ohne festes Einkommen und ohne Wohnung waren. Am 1. Dezember kamen wir bei Kufstein an die deutsch-österreichische Grenze. Dort wurde ich wegen Reststrafen und einem Bewährungswiderruf von 1988 - 1989 verhaftet.

Ich gab Blondy, das ist der Name meines Freundes, meinen Hund und wir machten aus, daß ich nach Konstanz schreibe, um alles genau zu klären.

Ich landete nach 14-tägigem Alkohol-Entzug in der JVA Bernau und schrieb von da nach Konstanz. Keine Antwort. Ich schrieb wieder. Nach einiger Zeit kam ein Schreiben der AGJ (Beratungsstelle für Leute ohne festen Wohnsitz). Die AGJ hatten wir als Kontaktadresse ausgemacht. Der Inhalt des Schreibens:

„Sehr geehrter Herr S.,

wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, daß Herr Blondy im März 1993 verstorben ist. Leider können wir Ihnen nichts näheres mitteilen. Anbei senden wir Ihnen Ihre an Herrn Blondy adressierte Post zurück. Mit freundlichen Grüßen.“

-Ich dachte, ich lebe nicht mehr! Jetzt habe ich es halbwegs verdaut, aber...Ich finde, in so einer Situation müßte ein neutraler Gesprächspartner da sein, um einem zu helfen, damit man nicht alles in sich reinfressen muß. An die Sozialarbeiter oder andere Bedienstete der JVA kann man sich da nicht wenden. In so einem Moment bekommt man einen solchen Haß gegen die ganze Justiz. Mir persönlich kann da auch der Anstaltspfarrer nicht helfen, auch nicht Gott. Da lasse ich Kirche lieber Kirche sein, nichts gegen die Kirche, aber ich habe meinen eigenen Gott und da bin ich sicher auch nicht der einzige.

Jetzt stehe ich wieder vor dem Nichts, und weil ich mir Luft machen mußte, habe ich euch geschrieben.

5. April 1993

Die Sache mit meinem Freund habe ich jetzt verdaut. Nur die deutsche Bürokratie finde ich so bescheuert. Ich will erfahren, wie und wo er genau gestorben ist und wann und wo er beerdigt ist. Aber da bekomme ich keine Antwort, wo ich auch hinschreibe.

Sobald jemand von der Straße gestorben ist und keine Angehörigen (Verwandten) hat, wird das alles anonym gemacht. Da wird einfach verscharrt und kein Mensch weiß,wo. Das war 1990, als ein Kollege von uns gestorben ist, genauso. Die Stadt hat uns einfach keine Auskunft gegeben, genauso wie die Stadt Konstanz jetzt bei mir. Ich finde das einfach nicht gerecht. Da kann man seinem Freund nicht mal mehr die „letzte Ehre“ erweisen. Und was mit meinem Hund („Villa“ heißt er) passiert ist, weiß ich auch nicht. Keiner weiß bescheid.

Naja, das sind vielleicht alles Kleinigkeiten, an denen man sich aufreibt. Bis einem mal der Kragen platzt, und dann wirste gefragt, warum...

30. April 1993

V.S., JVA Bernau

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen