: Revue ist überall
■ Barock trifft Zeitgeist: „Hippolyte et Aricie“ in Leipzig
Mit Macht brach jüngst in Leipzig das Zeitalter der Barockoper über mich herein. In der Gegend, wo die Palmen sich verneigen und die Purpursonne weint, ging eine rasant-verspielt-verrückte Händel-Show über den Boulevard. Harry Kupfer (am Regiepult), Jochen Kowalski (auf der Bühne), Richard Hickox und Georg Friedrich Händel (sehr bescheiden im Orchestergraben) beschenkten den opernsüchtigen Teil der Menschheit in der Komischen Oper mit einer vielkolportierten Episode aus Julius Cäsars Heldenleben. Der Sieg über seinen Thronkonkurrenten Pompejus, sein Einmarsch in Ägypten und vornehmlich die politisch-erotische Affäre mit Cleopatra sind der Stoff, aus dem Händel den Erfolg seiner fünften Londoner Saison 1724 machte: „Julius Cäsar in Ägypten“.
Ein paar Stunden zuvor erlebte die erste Inszenierung einer noch nicht einmal gegründeten musikalischen Einrichtung auf der Bühne des riesigen Leipziger Opernhauses ihre Premiere. Die zukünftige Leipziger Opernschule spielte André Ernest Modeste Grétrys Oper „Zemire und Azor oder Die Schöne und das Scheusal“. Bertrand Sauvat hat in den Gängen einer Gassenbühnen-Dekoration des 18. Jahrhunderts heimlich die Zeit zurückgedreht und mit den handbewegten Versatzstücken dieser Epoche und den jungen Stimmen der Sänger ein zartes, kunstvoll naives Zauberspiel getrieben.
Wiederum nur ein paar Stunden davor inszenierte, bebilderte und kostümierte der Bühnenbildprofi und Regiedebütant Gottfried Pilz den ersten künstlerischen Höhepunkt des Leipziger Opernjubiläums: „Hippolyte et Aricie“, Jean- Philippe Rameaus erste, 1733 in Paris uraufgeführte Oper. Pilz schuf zeitlose Räume aus farbigem Licht, schwarzem Lack und dunklen Spiegeln. Manchmal entschweben die Wände, und der Raum für die musikalische Zeit ist in Licht und Schatten aufgelöst. Kühler, kostbarer Luxus, wie von ihm gewohnt, umgab Figuren in strengen Mänteln und Hüten von bestem Tuch und Filz.
Trotz der Gewandung nach neuester Mode bediente seine Arbeit die Oper des 18. Jahrhunderts. Er spielte mit dem Theater als einer Maschine, die ihr Publikum auf vielerlei Weise zu amüsieren und – das ist wohl der eher französische vor dem italienischen Akzent – zu erbauen hat. Da schwebten die Götter in Gondeln vom Bühnenhimmel herab, Merkur im knallblauen Gehrock kriegte ein rotes und ein gelbes Flügelein an die Flugmaschine à la Bauhaus, und Diana telefonierte mit Jupiter per Mondsichel. Stille Akrobaten schlagen Rad. – Aber heiterer Bühnenzauber macht dieses Stück nur zum geringsten Teil aus. Die komplizierte Handlung dreht sich um vermeintliche Keuschheitsgelübde und vermeintlich verbotene Liebe, um zurückgewiesene Gefühle und angenommene Ehrverletzungen. Todesfurcht und das, was annähernd zwei Jahrhunderte nach der Uraufführung „Ödipuskomplex“ genannt werden wollte, treiben das Stück voran. Für zwei Paare geht es auf Leben und Tod. Hippolyte liebt Aricie. Sie liebt ihn ebenfalls, wähnt sich aber von ihm wegen einer Schuld ihrer beider Väter gehaßt. Hippolytes Stiefmutter Phädra begehrt den jungen Mann ebenfalls, wenn auch vergeblich. Dennoch glaubt sich sein Vater Theseus vom eigenen Sohn betrogen und bereitet ihm den Tod.
Im Bannkreis faszinierend hochglanzpolierter Ästhetik aus Körpern und Silhouetten und abgemessener Choreographie gibt es verrätselte Bilder um der reinen Schönheit willen, ganz nah verstehbar menschliche Situationen und zum dritten deutliche zeitgeistig-politische Anspielungen. Auch das revuehaft unvermittelte Wechseln ästhetisch-emotionaler Ebenen gehört ja ins barocke Theater. Im zweiten Akt und Kulminationspunkt der Inszenierung, als Theseus auf der Suche nach Wahrheit durch die Unterwelt wandert, verschränken sie sich am dichtesten. Die Furien und Parzen – ihr Chor klingt, als warte schon Glucks „Orpheus“ vor den Pforten der Hölle – bestehen aus einer Herrenriege in geckigen Gehröcken, neonrot beleuchtet. Während sie Theseus verkünden, er werde die Hölle auf Erden finden, formieren sie sich zu Ballettreihen und zeigen ihre reinseiden abgefütterten Mantelschöße. Das sah wunderbar und unentschlüsselbar aus. Der nächste Moment ließ Theseus als ganz unstilisierten Menschen vor Zukunftsangst schlottern. Tomas Möwes gelang ein gesungenes Charakterporträt über den festgelegten Dramentypus hinaus.
Der bestechende Gesamtkünstler Pilz bewies mitten in der tragischsten Aktion auch noch Sinn für Selbstironie: Ein Putzfrauenchorsängerinnengeschwader wienert zwischenzeitlich den Glanzlackfolienfußboden seiner manisch supersauberen Bühnen. Neben ihm bestand Udo Zimmermann durchaus am Pult des Neuen Bachischen Collegium Musicum. Er mühte sich redlich und mit Erfolg um ein transparentes, fast appolinisch klares Klangbild. Scharfe Punktierungen und Akzente sorgten dafür, daß trotz kleiner Wackler in keinem Moment die Intensität der Wechselwirkung zwischen Bühne und Orchester nachließ. Auch das Continuo belebte sich mit wechselnden Instrumenten. Dennoch, die langjährige deutsch- protestantische Bachtradition des Ensembles konnte das instrumentale Klangbild keinen Moment verleugnen.
Anders in Farbe und Ton klang der von Volkmar Olbrich makellos einstudierte und von der Choreografin Elisabeth Clarke in wohlabgemessene Bewegungen versetzte Chor. Das gesamte Ensemble gleichermaßen sehr guter Sänger zu nennen, ist schier unmöglich. Es gab keinen einzigen Ausfall. Anne Howell als Phädra und Tomas Möwes gebühren die Kronen. – Barockes Theater erfreut sich nicht nur an seinen ausgewiesenen Pilgerstätten wie Innsbruck oder Halle der Pflege, sondern Konjunktur hat sie von der Augsburger John-Dew-Scharade bis nach Brüssel, wo jüngst Herbert Wernicke die Nymphe Calisto umjubelt in den Sternenhimmel der blau-bunten Guckkastenbühne entschweben ließ. Dieses Theater der Vielfalt mit seiner Musik der unvermittelten Themen und Kontrapunkte, der tödlichen Tragik vor heiteren Schlüssen, der funktionierenden Mechanik von Liebe, Haß und Versenkungen, der endenden Melodien brechtiger Arien, trifft den postmodernen Zeitgeist. Alles ist durch jedes zitierbar. Revue ist überall, das Nummerngirl zeigt Balkankrieg, Björn und Boris Becker im selben Programm. Folglich auch Rachearie vor Liebesduett – und warum nicht Händelcantilene vor Camelreklame und Besenweiber in Dianas Jagdgefolge? Irene Tüngler
Nächste Aufführungen: 19. Mai, 16. und 21. Juni, jeweils um 19 Uhr
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