piwik no script img

Atemberaubendes Wachstum

Boomende Marktwirtschaft verstopft Santiagos Straßen und nimmt den Bewohnern der chilenischen Hauptstadt im Winter den Atem  ■ Aus Santiago Astrid Prange

Chiles atemberaubendes Wirtschaftswachstum schneidet der Bevölkerung die Luft ab. Dicke Wolken aus Abgasen und Staubpartikeln vernebeln den rund fünf Millionen EinwohnerInnen der Hauptstadt Santiago die Aussicht auf die schneegekrönte Andenkette vor ihrer Haustür. Zu Beginn des Winters im Mai verhindert die Inversionslage – über den Wolken ist es wärmer als unten in der Stadt – den Abzug verdreckter Luftmassen und nimmt den BewohnerInnen den Atem.

Dennoch sieht sich Chiles Verkehrsminister German Molina außerstande, dem wachsenden öffentlichen Druck nach einem Verkehrsverbot in der Innenstadt entgegenzukommen: „Ich kann den Stau nicht mit Maßnahmen bekämpfen, die die in der Verfassung verankerten Rechte einschränken“, erklärt der Minister lapidar.

Freie Fahrt also für freie chilenische BürgerInnen? Verkehrsminister Molina sieht keinen anderen Ausweg. Der Transport sei ein weltweites Problem des Wirtschaftsmodells: Je mehr Wachstum, desto mehr Autos. Es sei zwar ungerecht, daß die Fußgänger genauso wie die Autobesitzer unter den Staus zu leiden hätten. „Doch ein Verkehrsverbot kann nur bei extremer Luftverschmutzung verhängt werden.“

Drei Viertel der Bevölkerung von Santiago ist für den täglichen Weg zur Arbeit auf das Netz von 11.000 Bussen und zwei U-Bahn- Linien angewiesen. Das restliche Viertel rollt in 550.000 Autos ins Zentrum. Der Stau verfügt über einen perfekten Selbsterhaltungsmechanismus: Je größer das Verkehrsaufkommen und die Abgaswolken über der Stadt, desto höher die Anzahl der EinwohnerInnen, die an den Stadtrand ziehen und auf dem immer längeren Weg zur Arbeit die Straßen verstopfen.

Bis zum Jahr 2000 wird die Blechlawine in Santiago auf rund eine Million Autos angeschwollen sein. Der Fuhrpark ist nach Angaben der „Speziellen Kommission zur Luftreinigung im Stadtgebiet“ (CEDRM) zu 70 Prozent für den Smog über Santiago verantwortlich. Zum Vergleich: In der 16-Millionen-Stadt Sao Paulo im Nachbarland Brasilien gibt zwar zehnmal so viele Autos und Taxis, doch lediglich 8.500 Busse.

Jorge Escalante Hidalgo, der für die Kommission CEDRM das diesjährige Programm zur Bekämpfung der Luftverschmutzung ausgearbeitet hat, schiebt der „Mafia der Busunternehmer“ die Schuld für die dicke Luft über Santiago in die Schuhe. „Hier wollen alle Unternehmer sein. Wer einen Bus besaß, bekam automatisch eine Konzession“, beschreibt er die bisherige Verkehrspolitik. Daran wird sich bis zu den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Dezember dieses Jahres nicht viel ändern, denn, so Escalante, die „Übergangsregierung von Präsident Aylwin will ihre Beziehungen zu den Unternehmern nicht verschlechtern“.

Für die Zulassung von Bussen gibt es auch im Augenlick keine Obergrenze. Lediglich die technische Qualität wird genauer überprüft. Mittlerweile wird nur noch den Bussen, die die vorgegebenen Abgaswerte nicht überschreiten, der Transport von Passagieren ins Stadtgebiet von Santiago erlaubt. Dies hat dazu geführt, daß in den letzten drei Jahren immerhin 2.500 veraltete Busse aus dem Verkehr gezogen wurden.

„Seit dem Amtsantritt von Präsident Patricio Aylwin vor drei Jahren hat sich die Lage verbessert“, findet Carlos Prosser, der zusammen mit 36 Bürgerinitiaiven eine Kampagne zur Bekämpfung des Smogs organisiert hat. Überraschenderweise, so Prosser, würde die Devise der Umweltschützer, daß Chile nur der modernen Welt angehöre, wenn es seine Umweltverschmutzung in den Griff bekäme, gerade in Unternehmerkreisen akzeptiert. Jorge Escalante, der während der Diktatur General Augusto Pinochets (1973 bis 1989) in Berlin lebte, betont die von der CEDRM erfochtenen Fortschritte. Abgesehen von der Katalysatorpflicht (seit September 1992 müssen neue Fahrzeuge mit einem Dreiwegekatalysator ausgerüstet sein), habe die Stadt den Ausbau von Parks und Grünanlagen vorangetrieben, Fahrradwege angelegt und rund 200 Kilometer Sandpisten pro Jahr asphaltiert. Außerdem werde der Ausbau der U-Bahn vorangetrieben, und die Aufnahmekapazität der Krankenhäuser sei erhöht worden.

Der staatliche Umweltschützer räumt jedoch ein, daß die verstreuten Verordnungen in der Praxis wenig Wirkung haben. „Es fehlt ein umfassender Umweltkodex mit Kompetenzen für die lokalen Behörden. Bis jetzt können Übertretungen nicht bestraft werden“, erklärt Escalante. Das seit dem 1. Januar dieses Jahres gültige Luftreinigungsgesetz zum Beispiel, das den Industriebetrieben in Santiago einen Schadstoffausstoß bis zu 112 Milligramm pro Kubikmeter zugestehe, werde von etwa tausend Betrieben mißachtet.

„Ich persönlich glaube, und das meint auch die Mehrheit der Bevölkerung, daß wir gegen die Luftverschmutzung stärkere Maßnahmen brauchen“, ist Escalante überzeugt. Im Winter seien die Krankenhäuser voll mit Kindern und Rentnern mit Atemwegserkrankungen. Doch nur an besonders schlimmen Tagen wird ein Verkehrsverbot verhängt, bleiben Schulen und Fabriken geschlossen, und die Bevölkerung wird dazu aufgerufen, sich nicht unnötig anzustrengen.

Daniel Fernandez, Sekretär im chilenischen Verkehrsministerium, schlägt vor, den Verkehrsstau marktwirtschaftlich zu bekämpfen: „Zu Stoßzeiten ist die Nachfrage nach bestimmten Straßen größer als ihr Aufnahmevermögen“, doziert der Politiker. Es böte sich deshalb an, für ihre Benutzung einen Tarif zu verlangen. Beispiele aus Singapur und New York hätten bewiesen, daß dies zur Verringerung des Verkehrsaufkommens beitragen würde.

Doch auch der überzeugte Marktwirtschaftler ist sich darüber im klaren, daß mit einer Gebühr für begehrte Straßen das Stauproblem nicht aus der Welt geschaffen ist. „Das Wichtigste ist, daß wir den Verkehrsstau endlich zur Kenntnis nehmen. Die Techniker müssen aufhören, sich auf die Beschreibung des Phänomens zu beschränken. Dann erst können wir das Problem frontal angehen.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen