: Das Kino in der Krise in der Krise
Das Filmfestival von Cannes geht heute mit der Preisverleihung zu Ende – Resümee und Prophezeiung ■ von Thierry Chervel
Zwanzigtausend Besucher hatte das Festival von Cannes in diesem Jahr. Es waren schon mal vierzigtausend. „Die Krise“, so das allgemeine Resümee, „geht auch an diesem Festival nicht vorbei.“ Es waren nicht nur weniger Besucher als in den letzten Jahren – sie kamen auch später – oft erst am zweiten oder dritten Festivaltag – und gingen früher. Die Stimmung ist am Ende eher verdrießlich. Viele Journalisten fragen sich, ob es überhaupt noch lohnt, die teure Reise nach Cannes anzutreten. Zu mager war die Ausbeute interessanter Filme. Ihre Regisseure – Stephen Frears, Peter Greenaway, Mike Leigh, Chen Kaige, Jane Campion – sind gut eingeführt. Man muß nicht nach Cannes kommen, um ihre Filme zu sehen. Was fehlt, sind vielversprechende Erstlingsfilme. Kein neuer Jarmusch, Spike Lee, Kieslowski, keine Mira Nair – alles Entdeckungen der Nebenreihen von Cannes – in Sicht. Diese Qualität war schon in den letzten Jahren so selten, daß sie erst gar nicht mehr in den Nebenreihen, sondern gleich im Wettbewerb landete. Jane Campions erster Film „Sweetie“, Soderberghs „Sex, Lies and Videotapes“, Jean- Claude Lauzons „Leolo“ liefen von vornherein in der offiziellen Reihe. Die Nebenreihen wirkten seitdem wie abgegrast. 1993 gab es nun auch im Wettbewerb nichts mehr zu entdecken.
Es ist ja nicht nur eine Krise – es ist eine Krise in der Krise. Zumindest in Europa haben die Schwierigkeiten schon lange vor den nochmals schärferen Bedingungen eingesetzt, die jetzt von der wirtschaftlichen Rezession diktiert werden. Niedergang wäre beim europäischen Kino der passendere Ausdruck. Ein Beispiel, herausgegriffen aus der Informationsflut, für die Cannes immerhin noch gut ist: In Spanien wurden 1982, als die Krise schon eingesetzt hatte, noch 140 Filme gedreht – letztes Jahr waren es vierzig. Wer erinnert sich heute noch an Carlos Saura, der in den siebziger Jahren Jahr für Jahr heftig diskutierte Filme drehte? Der letzte bekannte spanische Filmregisseur ist Pedro Almodovar. Von einem „spanischen Kino“ zu reden, wäre unter diesen Umständen Schönfärberei. Man könnte das jetzt durchdeklinieren: Italien, Skandinavien, Deutschland, Benelux – was bleibt? Einzig Frankreich hat noch eine recht und schlecht funktionierende Kinoindustrie. Aber die Angst ist groß: Wenn die Großproduktionen des kommenden Jahres, Patrice Chereaus „La reine Margot“, Luc Bessons „Zaltman Bleros“ und Claude Berris „Germinal“, nicht laufen, könnte auch hier das Sterbeglöckchen läuten. In Osteuropa steht es bekanntlich noch schlimmer: Dort funktionieren nicht einmal die Herzlungenmaschinen der öffentlichen Fernsehsender und Filmförderungsgremien, die das westeuropäische Kino künstlich am Leben halten.
Der Wettbewerb und die Nebenreihen in Cannes haben in diesem Jahr vor allem eines gezeigt: Die einzigen möglichen Gegenmittel gegen die Krise des europäischen Kinos – die Filme selbst – sind wirkungslos. Was auffällt, ist eine ungeheure Autoreneitelkeit, die sich umgekehrt proportional zur Fähigkeit verhält, eine Geschichte zu erzählen – oder, um es neutraler auszudrücken, dem Film eine innere Konsistenz zu geben. Denn es geht hier gar nicht darum, eine konventionelle Machart zu fordern. Tarkowsky, Antonioni, Bergman verstießen gegen Konventionen und hatten im Kino dennoch Erfolg. Wo sind ihre Nachfolger?
Der Brüchigkeit der äußeren ökonomischen Verhältnisse entspricht eine innere der Filme. Der Effekt ist gähnende Langeweile. Weiß Pupi Avati in seinem Mittelalterfilm „Magnificat“, in dem Nonnen geweiht und Hexen ertränkt werden, eigentlich selber, worum es ihm geht? Warum sollte mich „Fiorile“ von den Tavianis interessieren, in dem ein Familienvater seinen Kindern eine Legende aus napoleonischer Zeit erzählt? Das sind Filme, die sich von vornherein damit abgefunden haben, daß sie im Kino keine Chance haben. Irgendwann laufen sie im Spätprogramm der Öffentlich- Rechtlichen bei verdientermaßen geringen Quoten.
Frappant ist bei all dem eine Tendenz zur Religiosität. So ist es eben: Wer sich schwach fühlt, sucht höhern Orts nach Trost, wer selber nichts zu sagen hat, zitiert die Bibel. Kaum ein Film, der dem eigenen Titel nicht noch das Wort Gottes voranstellt. Aber das hift auch nicht. Am peinlichsten ist die Kombination von Kündertum und künstlerischem Versagen in Wim Wenders' „In weiter Ferne, so nah!“. Weihevoll und selbstverzückt jagt der Filmemacher von insiderjoke zu insiderjoke und erspart uns keine seiner selbstgefundenen poetischen und ideologischen Einsichten. „Logorrhoe“, diagnostiziert „Liberation“. Andere Filme wie Robert Planchons unerträgliche Verfilmung der Kindheit von Ludwig XIV. (Louis, enfant roi“) oder Ricky Tognazzis „La scorta“ appellieren an nationale Ressentiments. Auch davon ist Wenders übrigens nicht frei.
Als einziges europäisches Filmland, in dem Regisseure noch Geschichten erzählen oder Ideen haben und außerdem noch die Kraft, sie zu verwirklichen, bleibt Großbritannien. Es ist paradox, wenn man bedenkt, daß dies das Land war, in dem die Filmindustrie nach dem Krieg zuerst zugrundeging. Vielleicht liegt es auch genau daran: In England hat man sich längst daran gewöhnt, daß Kino Fernsehen ist. Stephen Frears hinreißende Familienkomödie „The Snapper“ wird gewissermaßen nur zufällig ins Kino kommen. Sie wurde für die BBC gedreht und sollte eigentlich nur an andere Fernsehanstalten verkauft werden.
Auch in den britischen Filmen dieses Festivals spielten religiöse Motive eine wichtige Rolle – allerdings dienten sie nicht sosehr der Selbstbeweihräucherung als politischer Reflexion. Der Arbeiter wird fromm in Ken Loachs „Raining Stones“, weil er von der Politik längst verlassen wurde. Ähnlich in Mike Leighs „Naked“, der in hartem nordenglishem Akzent – überhaupt die Dialekte in den englischen Filmen! – die Geschichte des gottverlassenen Vagabunden Johnny in London erzählt. Es ist die Geschichte von verschwendetem Talent, dem die britische Gesellschaft keine Funktion mehr gibt. Johnny ist ein Philosoph und Moraltheologe, ständig hat er die Bibel und Nostradamus auf den Lippen. Die Dialoge sind verzweifelt und von rauher Komik zugleich. Peter Greenaway „The Baby of Macon“ schließlich war der einzige blasphemische Film des Festivals und lief wahrscheinlich deshalb außer Wettbewerb. Wie immer bei Greenaway handelt es sich eher um einen prächtig illuminierten historischen Traktat als um einen „Film“ im herkömmlichen Sinn. „The Baby...“ zeigt, wie
Fortsetzung nächste Seite
Fortsetzung
ein Wunder fabriziert und ausgebeutet wird und wie die Kirche es an sich reißt, um ihr Monopol nicht zu verlieren und um es selbst zu vermarkten. Das Wunder ist ein Kind – eine Jungfrau behauptet, es geboren zu haben. Die Kirche straft die Jungfrau mit 207 Vergewaltigungen. Ein finsterer Film. Allein das spricht dafür, daß er der Realität ziemlich nahekommt.
Und Amerika? Auch da ist Krise, selbst wenn sie weniger sichtbar ist als in Europa, denn ökonomisch ist Hollywood mächtiger denn je. Genau da liegt auch das Problem: Hollywoodfilme werden immer teurer – 25 Millionen Dollar kostet heute eine Durchschnittsproduktion – und müssen deshalb auf ein immer breiteres internationales Publikum berechnet werden. Das entleert sie innerlich. „Cliffhanger“ mit Sylvester Stallone, der hier in einer Aids-Benefiz-Gala außer Wettbewerb lief, ist dafür ein gutes Beispiel: ein schlecht gestricktes, unglaubhaftes Drehbuch wird aufgemotzt mit special effects und einer Gewalt, die allein der Anbiederung beim Publikum dient.
Die amerikanische Krise zeigt genau die entgegengesetzten Symptome der europäischen: Die europäischen Autorenfilmer denken nicht mehr genug ans Publikum, die Hollywoodbosse viel zu viel. Ausgerechnet Steven Spielberg kritisierte dieses Phänomen in einem Interview, das er der Zeitschrift der franzöischen Filmindustrie, „Le film francais“, während des Festivals gab: „Es ist wichtig, ans Publikum zu denken, das leugne ich nicht, aber das darf nicht das einzige Motiv für alles sein, was man erzählen will. Sonst kommen absurde Resultate zustande.“
Die Krise des Kinos läßt sich durchaus definieren: Die Balance zwischen Kunst und Kommerz ist zerbrochen. Kino muß beides sein. Wenn es nur Kunst oder nur Kommerz sein will, verliert es den Kontakt zur Realität und zur Erfahrung von Realität – und damit die Kraft, Geschichten zu erfinden, und Mittel, sie ins Bild zu setzen.
Heute abend vergeben Louis Malle, Judy Davis, Claudia Cardinale, Emir Kusturica und die anderen Jurymitglieder die Preise. Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, wird die Goldene Palme an Chen Kaiges grandiosen „Farewell to my Concubine“ und der Große Spezialpreis der Jury an Jane Campions sehr schönen und eigenen Film „The Piano“ gehen. Auch eine umgekehrte Reihenfolge ließe sich rechtfertigen. Jane Campion wäre dann in der 46jährigen Geschichte des Festivals die erste Regisseurin, die mit einer Goldenen Palme ausgezeichnet würde. Die besten Filme kamen in diesem Jahr jedenfalls aus dem fernen Osten und dem fernen Westen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen