: Für ein paar Stunden weniger
Jungfernfahrt mit Prominenz an Bord: Der ICE fährt jetzt auch nach Berlin. Allerdings nur bis zum Bahnhof Lichtenberg, dafür mit Zwischenhalt in Magdeburg. ■ Aus dem ICE Eberhard Löblich
Die Schüler der Musikschule Helmstedt gaben sich hörbar Mühe. Aber irgendwie müssen sie etwas falsch verstanden haben. Sie empfingen den mit Prominenz und Presse vollgestopften Eröffnungszug mit „Yellow Submarine“. Großer Bahnhof in Helmstedt. Schließlich bekommt man auf der verträumten Station nicht alle Tage einen leibhaftigen Bundes- und Reichsbahnchef zu sehen und– nein, keinen Verkehrsminister. Matthias Wissmann zog den Flieger zur EG dem Zug nach Berlin vor.
Statt Krauses Nachfolger darf sein Statthalter in der Berliner Außenstelle, Ulrich Klimke, darauf verweisen, wie wichtig dem Bundesverkehrsministerium die Bahn sei: „Neun der 17 Verkehrsprojekte Deutsche Einheit sind Schienenprojekte.“ Und für den ICE, der Helmstedt nun täglich passieren wird, seien hier 800 Millionen Mark verbaut, 80 Brücken erneuert und 145 Streckenkilometer verdrahtet worden.
Dann dürfen die Promis schnippeln. Rot-weiß ist das Band, und gleich drei wichtige Leute – Bahnchef Heinz Dürr, Niedersachsens Kultusminister Rolf Wernstedt und Siemens-Manager Gerhard Wahl – zerlegen es mit Scheren und guten Wünschen in seine Einzelteile. Und auch die Schüler der Musikschule haben inzwischen kapiert, worum's geht. Der Sonderzug fährt zwar nicht nach Pankow, aber musikalisch stimmt die Richtung. Die Fahrzeit zwischen Braunschweig und Magdeburg verkürzt sich um ganze 36 Minuten. Wer's langsamer mag, kann es mit dem Interregio versuchen, der jetzt statt über Wolfsburg über Braunschweig fährt und die Volkswagen- Stadt von ihrer alten Verbindung nach Leipzig und Dresden abhängt.
Großer Empfang in Magdeburg. Dort feiern Stadtväter und Bahner nicht nur ihre Erhebung zum ICE-Haltepunkt, sondern auch noch die Sensation, daß sie ihren maroden Bahnhof in der Rekordzeit von nur 155 Tagen saniert haben. Mitfeiern durften aber nur ausgesuchte Gäste. Minister, Oberbürgermeister, Kommunalpolitiker und örtliche Bahnprominenz sonnten sich im Anblick des ICE, das eine Volk blieb im Tunnel eingesperrt. Angst vor ostelbischen Rebellen? Keiner kennt den Grund für die geschlossene Gesellschaft auf Gleis 7. Schaulustige, meint ein Bahnsteigwärter, könnten ja vom Bahnsteig gegenüber einen Blick auf den schnellen Zug werfen. Könnten sie, wenn da nicht der planmäßige Intercity von Hannover nach Berlin gekommen wäre, der sich dreist dazwischenschob. Aber für die heute Ausgesperrten sind schon ICE-Besichtigungen und -Schnupperfahrten organisiert: Einmal zum neuen Stellwerk Eilsleben und zurück. Und weil's so schön ist, gleich noch mal.
Weiter im Osten stellt der Promizug seine Bremsen unter Beweis. Zweimal sorgt der Lokführer vor roten Signalen für Chaos im Bordrestaurant. Sämtliche Tabletts mit den frisch gespülten Gläsern sind vom Tresen gerutscht. „Wenn's doch wenigstens vor dem Spülen gewesen wäre“, ärgert sich ein Mitropa-Kellner.
Einfahrt in Michendorf, und dort ist das Bahnhofspersonal offenbar volksnaher als in Magdeburg. Die Schaulustigen dürfen ICE und Prominenz in Blicknähe erleben. Sogar eine Demonstration hat den Bahnsteig erreicht. „Auch Ossis brauchen Lärmschutz“, klagt sie auf einem Transparent, aber für solche Kinkerlitzchen hatte die Bahn beim hastigen Ausbau der Strecke wohl weder Zeit noch Geld.
Dennoch darf sich Brandenburgs Regierungschef Manfred Stolpe großräumig freuen. „Der ICE ist ein europäischer Zug, und mit seinem Halt in unserem Land rauscht Europa nicht an uns vorbei“, dichtet er. Aber gleichzeitig denkt der Landesvater auch an die Stiefkinder. „Europa ist nicht in Michendorf zu Ende, meine Freunde in Poznan und Warszawa warten ebenfalls darauf, diesen Zug begrüßen zu können.“
In Michendorf zu Ende ist aber die ICE-Fahrt für Reisende, die nach Berlin Zoo wollen. Denn eigentlich ist es mal wieder wie stets bei der Bahn – alles zu spät. Die Strecke ist nicht rechtzeitig fertig geworden, in Michendorf müssen die Reisenden in einen Dieselzug umsteigen. Dennoch: Die Fahrzeit verkürzt sich insgesamt trotzdem. Von Frankfurt/Main nach Berlin in rund fünf Stunden, und wenn die Strecke bis Berlin Zoo endlich fertig ist, soll's noch ein bißchen schneller gehen. Bis dahin fährt der ICE im DDR-Zentralbahnhof Berlin-Lichtenberg ein, wo Bahnchef Heinz Dürr ein letztes Mal die Rede halten darf, die er auch schon an den anderen Zwischenstationen hielt. Nur in Magdeburg war Dürr ein wenig aus dem Konzept gebracht worden. Willi Polte, Oberbürgermeister der Elbmetropole, forderte, daß seine Landeshauptstadt dem weißen Flitzer erhalten bleibt. Der soll nämlich dereinst mit 220 Stundenkilometern von Hannover nach Berlin donnern – über Stendal auf eigener Strecke ohne Zwischenstopp in Sachsen- Anhalt.
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