: Sri Lanka will alles vergessen
Nach zehn Jahren Bürgerkrieg hält sich die singhalesische Mehrheit die politische Realität durch kollektive Verdrängung vom Leibe ■ Aus Colombo Bernard Imhasly
Innerhalb eines Jahres wurden in Sri Lanka der Präsident des Landes, der wichtigste Oppositionspolitiker, der Verteidigungsminister, der Chef der Marine, der Oberkommandierende der Nordregion und dessen gesamter Stab von Attentätern ermordet. Rund 30.000 Menschen sind bislang dem Bürgerkrieg zwischen Tamilen und Singhalesen zum Opfer gefallen. Dieser wütet nunmehr zehn Jahre – in einem Land, das soeben die erfolgreichste Touristensaison seit 1982 hinter sich gebracht hat, dessen Planungsminister Wickremasinghe davon spricht, daß „die ganze Insel eine günstige Investitionszone“ darstellt, und dessen nun ermordeter Präsident die Vision eines „Singapur von Südasien“ hatte, mit einer „Demokratie von Aktionären“.
In Jaffna, der Hochburg der feindlichen tamilischen Separatistenorganisation LTTE, wo die Attentate vermutlich ausgeheckt wurden, gibt es immer noch einen government agent, der als Vertreter der Regierung die srilankische Flagge hißt, Nahrungsmittel und Medikamente verteilt und den Lehrern die Löhne zahlt. Gleichzeitig schaut er weg, wenn LTTE- Vertreter hier und da in den Unterricht kommen, den Schülern Geschichtsunterricht über die tamilische Nation erteilen und die Kinder auffordern, sich der Armee der Tiger – und Tigerinnen – anzuschließen. Daß die LTTE inzwischen auch Polizeifunktionen ausübt, Steuern eintreibt und begonnen hat, Richter auszubilden, nimmt der Regierungsvertreter nicht zur Kenntnis – wichtig ist, daß staatliche Feiertage auch eingehalten werden und die Schüler ihre Gratisuniformen erhalten.
Ist es ein drôle de guerre? Oder die Verdrängung der Wirklichkeit angesichts der ausweglosen Effizienz von Selbstmordtätern? Die singhalesische Mehrheit Sri Lankas hat eine Mentalität entwickelt, die zwischen der imaginären und der realen Wirklichkeit nicht mehr klar unterscheidet oder diese rasch unter den Teppich kehrt. Das Schlachtfeld, das der Bombenanschlag auf Präsident Premadasa am 1. Mai in Colombo hinterließ, wurde innerhalb von Stunden gesäubert. Sei's drum, daß man dabei wertvoller Indizien verlustig ging: der Tod des Präsidenten und weiterer 23 Menschen konnte zwar nicht geleugnet werden; aber warum soll man sich dem schmerzhaften Anblick von Blutspuren und Kleiderfetzen aussetzen, wenn man die Tat ohnehin nicht rückgängig machen kann? „Stellen Sie sich vor: zehn Jahre eines ständigen Kriegszustands, der sich immer mehr festfrißt“, meint die Geschäftsfrau Nirmala de Mel, „ist es da verwunderlich, wenn jedermann die Augen schließt und kollektives Vergessenwollen um sich greift?“
So ist es denn nur folgerichtig, daß sich Polizeikorporal P.I. Rodrigo in der nahen Polizeistation, kurz nach dem Präsidentenmord, mit dem Besucher lieber über die Schweiz unterhält als über die Kleiderfetzen und angesengte Identitätskarten, die, fein säuberlich zu einem kleinen Häufchen zusammengefegt, auf dem Boden liegen. Und er ist entsetzt, als er vom Messerstich hört, der Monica Seles am Vortag in Hamburg beigebracht wurde.
Um die unausweichliche Realität drohender Suizidtäter erträglich zu machen, werden Gerüchte in die Welt gesetzt, die neben der LTTE auch singhalesische Untergrundbewegungen, den parteipolitischen Gegner, ja selbst die Armee zu möglichen Tätern machen. Zwar glaubt niemand ernsthaft daran, denn, so die Journalistin Rita Sebastian, „ein Singhalese brächte es nicht über sich, für seine politische Überzeugung zu sterben, und noch viel weniger besäße er die Fähigkeit, kaltblütig und präzis die nötige Vorbereitung dazu zu treffen“.
So werden denn imaginäre Gerüchte auf den Boden realer Möglichkeiten heruntergeholt und ernsthaft diskutiert, während die Realität ins Mythische verkehrt wird, um mit ihr fertigzuwerden. Der Gegner wird ins Dämonische stilisiert, der Freund zum Heiligen: Von erfahrenen – aber auch korrupten und rücksichtslosen – Politikern wie Premadasa und seinem ebenfalls ermordeten Gegenspieler Athulathmudali wird, kaum sind sie tot, wochenlang das Hohelied der mustergültigen Väter und Ehemänner, selbstlosen Diener des Volkes, genialen Redner und außerordentlichen Sportler gesungen – Eigenschaften, über welche die Politiker nur in Maßen verfügten.
Es ist ein Mechanismus der Verdrängung, den der Publizist Dayan Jayantillake mit dem Zahnpatienten vergleicht, der sich lieber mit Beruhigungsmitteln vollstopft, statt die nötige Wurzelbehandlung hinter sich zu bringen.
Kenner des Landes warnen davor, diese Einstellung als „typisch asiatischen“ Ausdruck eines mangelnden Realitätsbezugs anzusehen. Angesichts der schieren Unkontrollierbarkeit selbstmörderischer Gewalt ist es auch eine Form der Realitätsverarbeitung. Zugleich wirkt sie als kollektiver Schutzmechanismus, der hilft, fatale Kettenreaktionen zu vermeiden. „Ist es nicht erstaunlich“, fragt der Regierungssprecher mit Stolz in der Stimme, „daß es bisher in keinem Fall zu Ausschreitungen gegen die tamilische Minderheit kam, obwohl die LTTE-Verwicklung erdrückend ist und die Tamilen gerade in Colombo ein leichtes Angriffsziel wären?“
Die Kehrseite dieses Verhaltens ist allerdings ebensowenig zu leugnen: die resignierende Friedfertigkeit kann plötzlich in irrationale Gewalt umschlagen, so etwa bei den Tamilenpogromen im Jahr 1983 oder den Anschlägen singhalesischer Extremisten fünf Jahre später. Gewalt und Sanftmut liegen oft dicht beieinander.
Was dem westlichen Besucher als Eskapismus erscheint, verbirgt in Wahrheit eine Widerstandsfähigkeit, die in diesem buddhistischen Land das Leben durch Erleiden meistern läßt. Sie garantiert eine Kontinuität der individuellen Stabilität ebenso wie des gesellschaftlichen Gefüges und der staatlichen Institutionen. Wie anders wäre es zu erklären, daß Sri Lanka trotz blutigen Bombenterrors und des ökonomischen Aderlasses eines zehnjährigen Bürgerkriegs seine Wirtschaft überzeugend reformieren konnte, daß sich allein 1992 23 Milliarden Rupien – 6 Prozent des Bruttosozialprodukts – an Auslandsinvestitionen im Land ansiedelten?
Während 1977 die Mehrheit der Exporte noch aus Kolonialprodukten – Tee, Kokosnuß, Kautschuk – bestand, sind heute zwei Drittel der Ausfuhren verarbeitete Güter. Im Tourismus bedarf es nicht einmal der abgesonderten Exklaven von Strandhotels und luftgekühlten Luxusbussen, um den Besucher von der düsteren Realität fernzuhalten. Der Wunsch der Touristen nach der Illusion eines tropischen Paradieses kommt auch dem Drang der Srilanker entgegen, die Schatten der Realität zu überspielen und das Lächeln der meditierenden Buddhas und die Friedfertigkeit verträumter Palmenstrände als die eigentliche Wirklichkeit zu evozieren: „Wir brauchen die Touristen nicht nur wegen des Geldes“, sagt die Soziologin Radhika Coomaraswamy. „Sie halten uns die Augen offen für ein Sri Lanka, das wir sonst gar nicht mehr sehen würden.“
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